Nie mehr zu zweit

von Jorinde Minna Markert

März 2022. Das sind Magda und Sascha. Sie sind fast vollständig: Wohnung, Kühltruhe, Beruf (Er: Gastro, Sie: Hebamme). Bei Autofahrten spielen sie das Spiel, bei dem man Tiere oder Krankheiten mit dem selben Anfangsbuchstaben aufzählen muss. Bis eine:r nicht mehr weiter weiß. Haben Sascha und Magda eine exzentrische Seite? Nunja. Sascha hortet TK-Pieroggen. Magda tut Litschies ins Frühstücksobst.

Man möchte wetten: Die beiden verbringen ihren Urlaub nicht auf sexpositiven Retreats, hören keine Podcasts zu alternativen Elternschaften. Aber irgendwie finden Magda und Sascha sich eines Tages in einer Szene wieder, die wie eine utopische Vision der Post-Heteronormativität wirkt: Mit einer fremd-vertrauten Person namens Marga wabern sie in trauter Dreisamkeit auf ihrem Wasserbett. Alle tragen sie das gleiche bunte Kleid. Die Bäuche sind voll mit Risotto. Und einen Bauch wölbt außerdem ein "Hascherl", ein Baby also. Wessen es ist – schwer zu sagen.

Hormonspritzen und Obstsalat

"Nur drei können einander in die Mitte nehmen." Das sei so etwas wie ein Leitsatz für die Textentwicklung gewesen, erzählen Rosa Rieck, Katharina Kern und Lena Reißner vom DIEZEN-Kollektiv – auch ein Trio, aber zufällig. "Hascherl" ist nach einem narrativen Audiowalk durch eine früher glamouröse Berliner Einkaufsinstitution die zweite gemeinsame Arbeit der Autorinnen, die sich im Studium "Szenisches Schreiben" an der Universität der Künste Berlin kennenlernten. Rieck und Reißner studieren inzwischen zusätzlich Theaterregie in Berlin und Hamburg, Kern schreibt im Auftrag des Staatstheaters Braunschweig. Gedanken zu alternativen Mutterschaften haben alle drei beschäftigt und zu "Hascherl" geführt. Themen und Figuren entstanden teils am Reißbrett, hauptsächlich in Gesprächen und Assoziationen. Es käme vor, dass man sich in der U-Bahn zuflüstert: "Der da, das ist so ein Sascha."

Zu Beginn von "Hascherl" verabredet sich dieses Paar, Sascha und Magda, mit einer noch unbekannten Eizellenspenderin zum Blind Date in Österreich. Sie heißt Marga und auch sonst sieht sie Magda zum Verwechseln ähnlich. Vorhersehbar sonderbar verläuft das Kennenlern-Picknick über Hormonspritzen und Obstsalat. Sascha und Magda verhaspeln sich in den Phrasen der Langzeitbeziehung, die ihr erstes Poly-Experiment auf Tinder wagt: "Wenn du später nicht allein in deinem Zimmer schlafen möchtest, dann wäre da noch ein, ich glaube sogar zwei! Betten in unserem Zimmer frei – also nur als Angebot ..."

Möglichkeit der Ambivalenz

Was das Paar von der fast fremden Erbgut-Geberin will, ist komplexer als es klingt. Klar, sie wollen ein Kind von ihr. Sicher auch Nähe, vielleicht Sex. Aber vor allem soll Marga sie zu einer neuen Form verbinden, der Bezugspunkt sein, der aus einer nirgendwohin führenden Linie ein stabiles Dreieck macht. Und erstaunlicherweise antwortet Marga: "Ich bleibe gern."

"Alleinstehenden Frauen haftet immer etwas rätselhaftes an in unserer Gesellschaft, leider," erklärt Rosa Rieck vom DIEZEN-Kollektiv die Rätselhaftigkeit, die man in Marga hineinliest. Vielleicht, weil das, was Marga sucht, die Möglichkeit der Ambivalenz ist: gleichzeitig ein Kind haben und kein Kind haben, innerhalb und außerhalb einer Beziehungskonstellation sein. 

"Sind wir ein soziales Experiment für dich, sind wir ein Hilfsprojekt, sind wir eine willkommene Abwechslung?" – Magda ist eifersüchtig auf die Leerstellen in Margas Biografie, auf ihr Leben vor dieser Dreierkonstellation. "Was ist der Unterschied zwischen uns und einem Verein?", fragt sie auch noch Monate später, als die Schwangerschaft in vollem Gange ist, Sascha dem Hascherl bereits Puppen aus alten Socken bastelt. Es wurde beschlossen, dass die Geburt zu dritt gewuppt wird. "Sie gehört doch schon zu uns, 
sie ist in uns hineingewachsen", sagt Magda über Marga. Die trotzdem rätselhaft bleibt, die Art von Person, die auf ein "Manchmal hasse ich dich" antwortet: "Das ist okay." Machmal hassen sie auch Sascha, stellen Magda und Marga fest. Auch das ist okay.

"Familie" war der erste thematische Impuls des Projekts, für dessen Recherche Rieck, Reißner und Kern durchaus auch mal einen Online-Workshop für interessierte Eizellen-Spenderinnen besuchten. Zum Schreiben traf sich das Kollektiv regelmäßig, dann verzog sich jede in ihre Ecke zum Tippen. Beim Umschreiben, Weiterschreiben und Redigieren dürfen dann alle alles ändern  – "mein Text, dein Text" gibt es nicht (schon aber eine Art Veto-Recht). Sie hätten mal in einem Dokument unterschiedliche Farben benutzt, um nachzuvollziehen, welcher Text von wem stammt. Teilweise wechselte die Farbe innerhalb eines Satzes, sogar innerhalb eines Wortes. 

Mini-Matriarchat

Der Sound des Stücks klingt keineswegs nach Farbwechseln mitten im Wort. Der Text ist sprachlich aus einem Guss, ein Tonfall, irgendwo im naturalistischen angesiedelt, mit Affinität für Lücken und aneinandervorbei. Diese Sprache sei eine Geburt dieses Texte – das nächste Projekt wird schon wieder anders klingen.
 
"Was ist so lustig? Was habt ihr zwei wieder zu lachen? Sagt es mir!", klagt Sascha, der bei dieser Schwangerschaft mehr und mehr am Rande steht. Das Hascherl-Projekt scheint zu einer Angelegenheit zwischen Magda und Marga zu werden. Sie fachsimpeln, flechten sich das Haar gleich, ziehen das gleiche Kleid an. Sie stehen voreinander wie Spiegelbilder oder ein Zwilling und teilen ja nun tatsächlich 1 Erbgut. Sascha darf trotzdem einen Wasserbett-Platz einnehmen in diesem Mini-Matriarchat. Er darf auch das gleiche Kleid anziehen. Diese Dreierbeziehung ist weder heteronormative Kleinfamilie noch subkulturelle Wahlfamilie. Sie ist einfach, ohne Bezeichnung. So, wie Magda und Sascha sich vorstellen, dem Hascherl einmal zu erklären, wer seine Nicht-Tante und Nicht-Mutter ist: "Sie ist deine Marga. Sie war immer Teil von dir. Du warst immer Teil von ihr."
 
Eizellenspenden führen oft zu risikobehafteten Schwangerschaften. Auch wie diese hier ausgeht, bleibt ungewiss. Sicher ist nur, falls etwas schiefgeht, wird man einander in die Mitte nehmen. Als die drei am Ende des Stücks auf einem einsamen Waldgrundstück das Kind erwarten, stellt Sascha fest: "Ich glaube, wir sind nie mehr zu zweit." Und damit meint er kein Hascherl.

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