Gewaltgetriebene Gesellschaften

von Elena Philipp

März 2022. Ein Krater brennt, das "Loch von Derweze" in der turkmenischen Wüste Karakum. Das Gasleck wurde in den 1960ern oder 70ern bewusst entzündet, um Explosionen zu verhindern und "um die Menschen zu schützen". Nun brennt ein ewiges Feuer. "Bravo", ruft Marinka dem Glühen zu. "Majestätisch" findet das Feuer ihr Bruder Jan. Ein real existierendes Bohrloch, das in Ivana Sokolas Theatertext "Pirsch" im Prolog beschrieben wird und dessen Brennen sprachlich übergeht in das Feuerwerk über dem fiktiven "FEST". Als seine Teilnehmer:innen stellen sich die drei namentlich gekennzeichneten Figuren vor: Marinka, Jan und Lene.

Keine Zeit ist vergangen

Archaisch wirkt das Dorffest, trotz Zuckerwatte, Autoscooter, Ponyreiten. Es kreist um ein dunkles Ereignis, einen Übergriff: "Es ist / Es war / Es ist lange her. / Keine Zeit ist vergangen", beschreibt Marinka seine traumatische Wirkkraft. Sie hat die "Stadt mittlerer Größe" verlassen und ist erst jetzt, zum "FEST", zurückgekehrt. Erstmals erzählt sie ihrem Bruder von der Tat und dem Täter: "Eine Gestalt / Die mich niederrang und schirmt / Vom Lauf der Sonne." Jan kann es nicht glauben, will ihre Geschichte abtun: "Es muss ein Traum gewesen sein, so / Wie du davon erzählst. / Hast du getrunken? / Bist eingeschlafen, mit Blick in die Sterne." Auch Lene, eine Jugendfreundin der Geschwister, die als Polizistin herbeigerufen wird, hört Jans Sicht auf Marinkas Erlebnis: "Dass du einen – Traum – hattest / Darf ich es sagen? / In dem ein Tier dich hatte. / Das hundsvermaledeite." Er spricht für sie, nicht aber in ihrem Sinne. Real war das Geschehnis, auch wenn sich Marinka nur ungenau erinnert.

Das Tier: Was in Jans Schilderung für das Animalische steht, erhält in "Pirsch" eine durchaus konkrete Gestalt – "die Hunde". Die Hunde sind eine ambivalente Instanz, die bei Sokola auch an den Chor der Erynnien in der griechischen Tragödie erinnert. Sind es Wach- oder Kampfhunde, zähnefletschende Rächer oder beharrliche Hütehunde? Das hängt davon ab, auf welcher Seite der Geschichte eine Figur steht – ob die Hunde ihr zugehören oder jemand anderem. Die Hunde haben sofort verstanden, was passiert ist: "Berührung ohne Vorlauf / Ohne Zärtlichkeit. / Der unheilige Flirt." Ein Flirt. Oder eine Vergewaltigung? Eine rituelle gar? Auch für Marinka ist das Vorgefallene bisweilen nur "der KUSS" – und Küsse gehören, glaubt man den Figuren, zum Fest dazu. "Der KUSS, der das FEST macht", sagt Jan, und auch Lene, die am Schluss selbst ein Opfer des Brauchs wird, ist überzeugt: "Ein KUSS muss es sein." Gewalt, die im Kern einer Gemeinschaft wirkt, verdeckt zwar, aber massiv, zu gewissem Grade eingehegt und doch triebbasiert, ist das Thema von "Pirsch".

Abwiegeln, Shaming, Gaslightning

Verknappt ist die Sprache, die Ivana Sokola gewählt hat. Andeutungen müssen genügen. Was genau geschehen ist, wird nicht preisgegeben. Aber im Dialog der Geschwister mit Polizistin Lene wird das Ereignis gemeinschaftlich bearbeitet – eine präjuristische Aufarbeitung des Traumas und ein Neujustieren der Verhältnisse. Inszeniert ist das Geschehen von Sokola als Sturz durch die Zeiten, Gegenwart und Vergangenheit fallen in eins: "Schau, mein Knie", sagt Marinka und Jan muss zugeben: "Ganz aufgeschürft. Ganz zerschunden", als sei der Übergriff eben erst geschehen. Eine Ebene der zyklischen, rituellen Zeit verbindet sich in "Pirsch" mit der linearen Zeitschiene der Ermittlung. Reenacten die Figuren den Übergriff, um das Geschehene aufzuklären und den Schuldigen zu finden?
Zumindest Marinka will ihn finden. Als sie die Polizei verständigt, versucht Jan die Anzeige zu unterbinden: "Lass ab, komm / Das wird schon. / Es ist FEST / Willst du ein Eis?." Nein, Marinka will kein Eis. Sie will, dass "das Biest" einen Namen bekommt.

In der Geschwister-Beziehung spiegelt sich das missbräuchliche Opfer-Täter-Verhältnis. Abwiegeln, Shaming, Gaslighting – Muster psychischer Gewalt, die die physische Tat wiederholen. Offenbar hat Jan etwas zu verlieren in dieser Konstellation: Er war selbst einmal ein Jäger, berichten die Hunde, die "Werkzeuge" und "Vehikel der Bräuche", als die sie sich selbst bezeichnen: "Ein Schlimmer war er / … Wir brachten dem Bruder / Was immer er wollte." Aber "Der KUSS, der sie getroffen hat", bringt auch ihn ins Wanken. Jan macht eine Entwicklung durch – er ist nun der Vertreter der "Regeln", einer Ein-Wort-Instanz wie "das FEST", "der KUSS" oder "die Hunde". Wenn alle die Regeln einhalten, so die Überzeugung, wird es allen besser gehen: "Nichts wird geschehen sein." Sind "die Regeln" zur Ideologie geronnene Verdrängung – oder Ausdruck der Hoffnung und des Versuchs, Recht und Gesetz zu etablieren?

Vier Jahre, viele Versionen

"Wenn ich mir die Stücke anschaue, geht es immer auch um Machtverhältnisse“, benennt Ivana Sokola im Zoom-Gespräch das Verbindende der bislang drei Theatertexte, die von ihr erschienen sind – als Alleinautorin, wie bei "Pirsch" und "Kill Baby", oder gemeinsam mit Jona Spreter wie bei "Tierversuch". "Was steckt in Konstellationen drin, die jede:r kennt, die aber doch beladen sind von Gewaltverhältnissen oder Dominanzstrukturen", ergänzt sie. "Pirsch" ist ihr drittes veröffentlichtes Stück, die Idee geht allerdings den anderen beiden Stücken voraus: "Der erste Entwurf zu 'Pirsch' ist für die Bewerbungsmappe der UdK entstanden", erzählt Ivana Sokola.

An der Universität der Künste Berlin studiert sie derzeit noch Szenisches Schreiben und bereitet ihr Abschlussstück vor, das wieder gemeinsam mit ihrem Studienkollegen Jona Spreter entstehen wird. "Pirsch" hat sie zwischendurch immer wieder liegen lassen und überarbeitet nach wie vor die finale Fassung: "Über vier Jahre gab es viele Versionen. Einmal habe ich ganz neu angefangen, weil die Sprache nicht stimmte und ich nicht wusste, was der Fokus war beim Schreiben." Zu konkret sei der Text damals geraten: "Er wurde zur Kriminalgeschichte – wer ist es gewesen, wie ist es passiert?" Die Handlung brauchte mehr Abstand, weniger Details.

Mit dem Entrücken in ein Nirgendwo und Irgendwann wird "Pirsch" von der Whodunnit-Story zu einer Parabel über strukturelle Gewalt und patriarchal geprägte Machtverhältnisse. Jans nur oberflächliches Eingehen auf Marinka und sein Versuch, die Aufklärung zu verhindern, Marinkas Beharren auf ihrer Version der Geschichte – das ist ein #MeToo-Muster, das hier, der Konkretion enthoben, etwas Überzeitliches enthält. Es gibt in "Pirsch" nicht eine:n juristische:n Sieger:in, sondern im direkten Dialog verhandeln die beiden Geschwister eine neue Machtverteilung. 

"KILL KILL / Eine Bestie tut, was eine Bestie will"

Atavistisch ist, was dabei herauskommt. Mitnichten steht am Ende die friedliche Frauenherrschaft in einem funktionierenden Rechtsstaat: Polizistin Lene gibt zu, hilflos zu sein angesichts der unklaren, nicht justiziablen Vorwürfe. Auch Gesetze zu stiften wie in Aischylos’ "Orestie" ist nicht das Ziel. Marinka wird selbst zur Jägerin, die die Hunde auf die Spur des unbekannten Schuldigen setzt, mythisch-literarischen Gestalten gleich – der Jagdgöttin Diana oder Penthesilea, die ihr Rudel auf Achill hetzt. "Die Hunde" ordnen sich in "Pirsch" derjenigen zu, die ihre Macht in Form von Gewalt zu nutzen bereit ist. Zuvor gehörte die Meute Jans Einflusssphäre an, doch sie "hatten sich gelöst von mir und den meinen / Seit ein paar FESTEN nun / Waren wir ihnen / Zu zögerlich", erklärt dieser. 

Die Hunde folgen "der ungerichteten Wut / Momenten der Bedrängnis", sie folgen aber auch einer eigenen Agenda: "KILL KILL / Eine Bestie tut, was eine Bestie will", wie ein Jagdruf lautet. "Die Erinnerung jagen / Das ist, was sie tun", sagt Lene. Sie verspricht ein "Gericht der Hunde", das "den gewöhnlichen Verbrechern, Fanatikern / Entfernten Cousins, Schlägern, Mördern / Enten, Passanten" zugedacht ist. Die Hunde, sie changieren zwischen animalischem Instinkt und domestizierten Trieben. Steilkantig ist der Grat zwischen Recht und Rache, auf dem die Figuren in Ivana Sokolas "Pirsch" balancieren. Und der Krater von Derweze, das "Tor zur Hölle", wirkt nicht mehr nur wie ein Sinnbild für schwelende, notdürftig eingehegte Konflikte. Angesichts der russischen Invasion in der Ukraine liest sich "Pirsch" wie ein bestürzend aktuelles Abbild rhetorisch regelbasierter, aber im Inneren von Gewalt getriebener Gesellschaften. 

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