Fällen oder nicht fällen

von Simone Kaempf

März 2022. Gemäßigt, nicht zu trocken, nicht zu feucht, nicht zu heiß, baumfreundliches Wetter nennt man das. Ein Klima, das viele Millionen Jahre im Zeitalter des Tertiär herrschte, als die typischen west- und mitteleuropäischen Wälder entstanden. So hat sie zum Beispiel auch der römische Gelehrte Plinius erlebt, jener Chronist des römischen Lebens, Briefeschreiber und emsige Naturwissenschaftler. Als eine Art Augenzeuge tritt er in Miriam V. Leschs Theaterstück "Wald" auf, im Schlepptau von Cäsar höchstpersönlich. Gemeinsam suchen sie nach den alten römischen Straßen, die der Feldherr anlegen ließ durch die germanischen Wälder und die natürlich längst überwuchert oder zerstört sind.

Den Wildwuchs würde Cäsar liebend gerne wieder in die alten, geordneten Bahnen zwingen: "Jetzt zuschlagen, uns zusammentun und hacken, sägen, wo wir können, mit allen Mitteln. Alles was sauber, trocken und gerade ist, haben wir dem Wald abgerungen. Das dürfen wir nicht vergessen." So einfach ist es natürlich nicht, die Natur in den Griff zu bekommen in diesem Stück über Klimawandel und dessen Konsequenzen, das die Verhältnisse allerdings unter ganz anderem Vorzeichen beschreibt als die der Realität. Denn hier sterben die Bäume nicht an Hitzerekorden und Trockenheit, sondern sie breiten sich aus.

Hey, so ein Baum!

Miriam Lesch führt in ihrem Stück nicht nur Cäsar und Plinius, eine adlige Waldbesitzerin, zwei Stadtbewohnerinnen oder eine Forstfacharbeiter:in zusammen, sondern auch Bambi, sprechende Käfer, Eichen, Buchen oder Pilze. Die Wege von Menschen, Tieren, Pflanzen kreuzen sich, und allen ist gemeinsam, dass sie die Natur in ihrer bisherigen Form nicht wiedererkennen.

Klimaveränderung, Baumsterben, überhitzte Innenstädte, steigende Mieten, aber auch biochemische Reaktionen der Natur sind Themen, die "Wald" behandelt. Lesch dreht den Spieß aber um und untersucht, was passiert, wenn sich nicht die Menschheit rasant ausbreitet, sondern der Wald. Über Nacht beginnen die Bäume zu wachsen, zur Überraschung aller, und es ist das Dilemma des Umgangs mit einer solchen Veränderung, die die Autorin in "Wald" durchdringt.

Das Baumwachstum beginnt auf dem Hinterhofbalkon einer Großstadtbewohnerin, die Lesch simpel A. nennt. Eine Buche hat Wurzeln geschlagen bei ihr, die mit Bäumen nie viel am Hut hatte. Der Baum soll weg, aber wie? Feuerwehr und Stadtgärtnerei fühlen sich nicht zuständig. Nach dem ersten Schrecken erwacht bald A.'s romantische Ader: "Ich hab mir nie gedacht, hey, so ein Baum auf dem Balkon, das wär doch was, aber wo sie jetzt da ist. Sie ist einfach die schönste Buche, die man sich vorstellen kann."

Die Frage nach fällen oder nicht fällen stellt sich bald nicht mehr, denn immer mehr Bäume wachsen weltweit. Eine Krisensitzung wird anberaumt, geleitet von Cäsar und Plinius. Der Rettungsversuch ist zum Scheitern verurteilt. Es ist das alte Dilemma einer schlecht vorbereiteten, von Einzelinteressen geleiteten Gesellschaft, die eine gemeinsame Lösung verspielt. Der pessimistische Forstfacharbeiter klagt über die gefallenen Holzpreise, über die viele Mehrarbeit und fordert erst einmal höhere Löhne. Die adlige Waldbesitzerin weist alle Verantwortung von sich und rät zum Aussitzen der Situation. Die eingestreuten Nachrichten melden derweil weiter ungewöhnliches Baumwachstum aus europäischen Städten, in Paris ist der pflanzenbewachsene Eiffelturm kaum noch in seiner Form zu erkennen.

Poetologie und Photosynthese

Klimasensible Stücke für die Bühne gibt es mittlerweile einige. Als Dystopien mahnen sie, bringen die Fakten auf die Bühne oder fragen konkret danach, was man tun kann. Lesch verpackt das Thema in seiner Komplexität mit Humorfaktor in die skurrile Rahmenhandlung und unterfüttert es mit vielen naturwissenschaftlichen Details. Nicht nur Cäsar und Plinius irren hier durch den Wald, sondern auch ein Bambi, das sich ihnen anschließt. Eine Käferin tanzt entlang der Baumstämme, profitiert vom Wachstum nach acht tristen Jahren im morschen Holz. Und nicht nur sie, der ganze Wald kann sprechen. Buchen, Eichen, Fichten, Butter- und Steinpilze, ein ganzer Chor erhält eine Stimme und jubelt über das neue Wachstum.

Die Bäume und Pilze erzählen von ihrem Wachstum, ohne dass diese biochemischen Vorgänge didaktisch oder pädagogisch geraten, im Gegenteil. In schönster Poetologie erfährt man von Photosynthese, Mechanismen des Sauerstoffabgebens, vom Aussäen, stutzen, aufbinden oder der japanischen Kultur des Waldbadens. Alles genau recherchiert von der Autorin. "Ich recherchiere sehr gern. Man findet viele Kleinigkeiten, die man so nicht gewusst hat, spezielle Details, und das bringt einen auf ganz neue Ideen, die ich auf die Recherche eins zu eins gar nicht mehr so zurückführen kann."

Flucht ist nicht mehr möglich

Miriam Lesch hat daraus passgenaue Dialoge und sprachschöne Mini-Monologe entworfen, die bei aller wilder Phantasie dafür gemacht sind, von Schauspieler:innen zum Leben erweckt zu werden. Drei Jahre lang hat sie als Regieassistentin am Schauspielhaus Graz und an der Berliner Schaubühne gearbeitet. Erste Texte entstanden aber bereits zuvor. "Das war für mich der Grund, als Regieassistentin zu arbeiten. Ich wollte sehen, wie die Texte auf den Bühnen funktionieren und wie man dann damit umgeht. Für mich war die Theaterpraxis eine gute Art, das Schreiben fürs Theater zu lernen." Als Autorin schätzt sie den gemeinsamen kreativen Prozess am Theater, ist Mitglied des Autorinnen-Stammtisches am Kosmos Theater Wien. "Ich tausche mich generell viel mit anderen Autor:innen aus während des Schreibprozesses, und ich finde das extrem hilfreich", so die 31-Jährige.  

"Wald" ist nicht speziell für ein junges Publikum geschrieben, aber man kann sich diese Mischung aus phantastischer Rahmenhandlung und skurrilen Details gut dafür vorstellen. Es schärft den Blick auf die Lebenskraft der Menschen-, Tier- und Baumwelt, die alle gleichberechtigt sind. Die alle gleichsam unter der neuen Situation leiden wie sich anpassen. Der Schrecken von Krise und Flucht blitzt dennoch auf, auch wenn Lesch daraus nicht das ganz große Drama entspinnt. Entrinnen gibt es auch in "Wald" nicht. Man erfährt, dass sich die Bäume in einige wenigen Ländern langsamer ausbreiten. Aber die Grenzen dorthin sind zu, Flucht ist nicht mehr möglich. Zurück bleiben die beiden Stadtbewohnerinnen. G. ist jetzt arbeitslos, die städtische Gärtnerei ist unnötig geworden, und sie bringt es in wenig tröstlicher Sachlichkeit auf den Punkt: "Wir sind Zeugen der Evolution, wir erleben sie live mit, in der ersten Reihe. Der Wald breitet sich aus und wir können nichts dagegen machen."

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