Wut auf Brudi

von Stephanie Drees

"Keine Ahnung, was du willst, Judith, aber Neid macht hässlich", sagt Theaterdirektor Juri Stein zu der Besucherin, die in seinem Büro sitzt. Judith Shakespeare ist Autorin, sie will mit dem Schreiben Geld verdienen. Auch ist sie etwas, das Gespräche mit dem Theaterfelsen auf der anderen Seite des Schreibtisches einerseits ermöglicht, ihr andererseits aber im mehrfachen Sinne zum Verhängnis wird: die Schwester von William. Ja, genau, DEM William.

Den Familiennamen möchte der Theaterdirektor möglichst groß auf die Werbeplakate schreiben, er möchte möglichst viel "William" im Sound, und – ganz wichtig – er möchte "systemrelevant" sein. Wenn er schon großmütig dieses junge Pflänzchen mit Aufmerksamkeit begießt und auch mal in der Theaterkantine zur Audienz begrüßt (dort riecht es nach alten Eiern), dann soll sie liefern. Am besten ein heißeisiges Diskursding, mit dem er (seine Idee!) einen Senkrecht-Start in die Nachtkritik-Charts hinlegen kann. Eine Frau, ein Relevanzthema, da fällt es ihm wie Eiersalat von den Mundwinkeln: ein Stück über Vergewaltigung! Und da Uneinsichtigkeit in so manchem hierarchischen System als Vergehen noch schwerer wiegt als Hässlichkeit (zumindest, wenn man eine junge Frau* aus dem Kulturprekariat mit Fame-Bruder ist), kann sich Judith (über deren geschlechtliche Identität sich Juri Stein auch ohne Nachfrage sicher ist) ihre Stück-Idee über den europäischen Wald direkt in die kurzen blonden Haare schmieren.

Im Wald der vielgeschlechtlichen Mütter

Und so beginnt Judith, die Hauptfigur in Paula Thieleckes Stück "Judith Shakespeare – Rape and Revenge" ein Stück über Vergewaltigung zu schreiben. Überhaupt ist dieser Text eine dramaturgische Matroschka: Er beginnt mit einer "Es-war-einmal"-Eröffnung. Wir sind bei einem "Rudel aktivistischer Revolutionär*innen", sie wohnen "im solidarischen Wald der vielgeschlechtlichen Mütter unserer Herzen." "Zur Veranschaulichung der gegenwärtigen Situation" haben sie ein Theaterstück geschrieben, welches sie nun aufführen. Eine Art Mini-Prolog. Theater im Theater also, und dieses Spiel mit den semantischen Ebenen gibt der Autorin einige Freiheiten: Zum Beispiel für (nun, ja: männliche) Figuren, die in ihrer Überzeichnung authentisch werden.

Thieleckes Stück hat bereits einiges abgeräumt in der Nachwuchsförderlandschaft: Es war nominiert für den "Retzhofer Dramapreis 2021" und ist Gewinner beim Stückewettbewerb der "Autor:innentheatertage 2022" am Deutschen Theater Berlin. Im Rahmen des Festivals wird der Text im Mai dieses Jahres dort uraufgeführt. 

Er ist so einiges: eine (mitunter) pechschwarzhumorige Melange aus literarisiertem Pamphlet, tarrantino-inspiriertem Wutrausch und Neubelebung der Screwball-(Tragik)komödie. Denn Judith, deren biblischer Namen einen recht schnell auf die Idee bringt, dass sie sich auf Dauer nicht alles wird gefallen lassen, hat viel Wut in sich. Sie brodelt. Im Gespräch mit dem Theaterfürsten bleibt die Wut zwar eingeschlossen in ihrem Kopf, doch drückt sie ordentlich gegen die Umzäunung: "HALT DOCH ENDLICH DEINE BLÖDE MACHO-FRESSE DU ARSCHGEBURT VON HIRN.SCHEIß.KÖNIGSLAUCH". Die Gesamtheit solcher Gedanken ergibt einen hübschen, vulgär-poetischen Bewusstseinsstrom.

Es sprechen Überlebende

Während Judith ihr Stück schreibt, kanalisiert sich diese Wut anders, beziehungsweise transformiert sie sich – in Texte für einen Chor aus Stimmen berühmter literarischer Figuren. LUCRETIA / LEDA / KALLISTO / LAVINIA / PHILOMENA / ARETHUSA / GRETCHEN / JUDITH / RÖSCHEN heißen sie in Judiths Stück "Rape and Revenge". Ihre Gemeinsamkeit ist schnell ausgemacht, zumindest scheint es so: Alle wurden vergewaltigt oder waren sexualisierter Gewalt ausgesetzt.

Was sie aber noch mehr eint, ist die Trägerinnenschaft eines kulturellen Motivs, das bis in die Gegenwart hinein überlebt hat: die Frau* mit der geschändeten Keuschheit. Thieleckes Stück handelt von sexueller Gewalt und den Strukturen, die sie nährt. Vor allem aber ist es ein Text über Zuschreibungen, Rollen und Erwartungen, die eine Gesellschaft für jene parat hält, die "Opfer" dieser Gewalt wurden. 53 weitere Stimmen kommen in jeweils kurzen, lyrisch anmutenden Monologen vor. Es sprechen "Überlebende". Schlaglichter, sprachlich verdichtete Miniaturen, in denen eine dokumentarische Qualität liegt.

Dekolonisiert das Gefühl!

Und: Im Chor der Stimmen ist auch Judith selbst. Was ihr genau widerfuhr, wird im Stück nur angedeutet, klar ist, der umfassend unsympathische "Brudi" hat damit zu tun. Der hat eine stabile Fanbase von Groupies, kokst sich öfter mal die Birne weg und offenbart seiner Schwester in Telefonaten, wie sie tun muss, um jene Kunst zu gebären, die nur den Großen vorbehalten ist: "Schreiben weißt du – das kommt vom Müssen. Wenn du deine Gedärme neu gebierst, dann ist es gut."
 
Insgesamt klingt der Beantnik-verehrende William wie die Parodie eines Literaten-Dudes, der vor kurzem von einer Schreibschule im deutschsprachigen Raum auf den Markt gespuckt und direkt mit Preisen überhäuft wurde. So mies sich seine narzisstische Arschlochhaftigkeit in der Schilderung einer Nacht mit der Theaterpforten-Angestellten "Röschen" offenbart (eine Vergewaltigung), so sehr läuft Judith – auch durch die Wut auf Brudi – als Dramatikerin zur Bestform auf: "Unsere Körper, unsere Gefühle sind kolonialisiert. Es kann nicht länger darum gehen, sich aufs alte Innere zu verlassen", rufen die Stimmen um Lucretia.
 
So beginnen sie also von vorn. Nicht weil sie müssen, sondern weil sie können.

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