Aquarelle in Space

von Dorte Lena Eilers

März 2022. Im Anfang war das Wort. Und in dem Wort war das Leben. Alles ist durch das Wort geworden. Selbst der Sinn, sobald Wort an Wort gereiht, eine Logik ergibt. Der Text als Struktur, die Geschichte als Matrix. So könnte es sein. Aber gleichzeitig auch ganz anders.

In Philipp Gärtners Stück "OLM" macht sich ein kleines Forscherteam um Dr. Mumiko Omar auf den Weg in unwirtliches Gelände. Mit dabei: der junge Promotionsaspirant Leroy Müller und die rätselhafte Terrain-Consultant Wollfi. Wir schreiben das Jahr des sandgeprägten Tieflandbachs, dem bereits ähnlich titulierte Perioden – das Jahr des steinigen, kalkarmen Mittelgebirgsbachs, das Jahr des kiesgeprägten Stroms, das Jahr des tiefen, nährstoffarmen Flachlandsees – vorausgegangen sind. Während Hydrologin Dr. Omar trotz Dauermigräne an den Erfolg ihres Forschungsvorhabens glaubt, wittert Leroy von Anfang an ein Problem. Leroy: "Mir sind die Gegend und die Leute hier/ auch unser Local guide/ äh etwas suspekt." Auch die Achtsamkeits-App kann keine Verbindung mehr aufstellen, während die Landschaft immer zerklüfteter und lebensbedrohlicher wird.

Seltsame Dinge geschehen

Der Berliner Autor Philipp Gärtner hat mit "OLM" einen wilden Science-Krimi geschrieben, dessen fiktionale Elemente in einer Zeit, in der die Digitalisierung mit ihren binären Codes aus Nullen und Einsen bereits alle Lebensbereiche durchdringt, gar nicht so sehr phantastisch, sondern mit zunehmender Kontingenz-Erfahrung – alles kann so sein, aber auch ganz anders – regelrecht plausibel wirken. Ein Zustand, der für evidenz-fixierte Wissenschaftlerinnen wie Dr. Omar natürlich katastrophal ist. Die Expertin für die Erforschung von Fluss- und Fließsystemen ist mit ihrem Team unterwegs, um im Auftrag der Firma Greentec Incorporated die Theorie des sogenannten "schWellenportals" zu verifizieren, eine "minimalinvasive Energiegewinnungsanlage", die stellenweise ins Flussbett eingebettet, "an … Mikroschaufelrädern … Energie" gewinnt. So zumindest ist es gedacht. Ein subversives, umweltschonendes Weltrettungsprojekt zur Sicherstellung des Energiehaushalts der ganzen Menschheit. 

Dumm nur, dass es nicht nur ein hydrologisches Parallelprojekt gibt, welches Dr. Omar heimlich zu verfolgen scheint – die Theorie der sogenannten "Kristallieder", aufgestellt von Prof. Dr. Julien Benoit, dem ehemaligen Geliebten von Dr. Omars Mutter –, auch haben allerlei windige "Player" ihre Finger im Spiel. Da sind neben den bereits Genannten: SV-0425, Gründerin von Greentec Incorporated, die vor ihrer freiwilligen Transition zum Cyborg den Namen Silvana Nikombo trug, ihre Assistentin Dr. Laura Kayser sowie die Journalistin Christina Jankova, die im Jahr der großen Nordseeästuare, welches dem Jahr des sandgeprägten Tieflandbachs zeitlich nachgeordnet ist, Recherchen zu dem Fall anstellt. Ihre Interviewsequenzen mit Julien Benoit und Laura Kayser sind mit den Ereignissen rund um das Forschungsteam verschnitten – ohne jedoch wirklich Klarheit in die Erzählung bringen zu können. Denn wie das so ist: Je tiefer man in eine Geschichte, eine Recherche, ein Gelände oder eine wissenschaftliche Fragestellung eindringt, desto unübersichtlicher werden die Ergebnisse. Dr. Omar: "Nichts, wirklich nichts seit Beginn dieser Expedition scheint irgendeinen Sinn zu ergeben. Und das sogar in beinahe kosmischen Dimensionen." 

Fortschreitende Dissoziation

Zu diesem Zeitpunkt ist das Forscherteam bereits in einer sonderbaren Höhle gestrandet, die allen physikalischen Gesetzen zu trotzen scheint. Seltsame Dinge geschehen mit Körper und Raum, Messgeräte spielen verrückt, der Wasserspiegel steigt, während die Expeditionsteilnehmer:innen in Tagebuchnotizen und Traumschilderungen die fortschreitende Dissoziation zu verorten suchen. Leroy: "Und ich fange an zu tauchen. Also ich tauche durch diesen riesenhaften Romanesco oder besser gesagt durch eine räumliche Entität, die tendenziell romanescoförmig und seifenblasenfarben ist und die bei schlagartigen Temperaturwechseln immer wieder ihre Form verändert, die das Licht immer wieder anders bricht, die die Farben, Helligkeiten und Schattenwürfe der Dinge …"

Neben dem Wissenschafts- und Wirtschaftskrimi, in dem es um aggressiven Lobbyismus und Bestechung, halbseidene Stakeholder und bahnbrechende Erfindungen im Bereich Künstlicher Intelligenzen geht, schickt Philipp Gärtner seine Protagonist:innen in "OLM" auf eine Sinnsuche in fluiden Zeiten, zumal zunehmend unklarer wird, wer diese Geschichte überhaupt erzählt. Dr. Omar: "Ich weigere mich das als eine vollständig unfingierte Realität anzuerkennen! Wer von euch hat sich diesen Scheiß ausgedacht?" Gute Frage. Denn immer wieder schalten sich sogenannte Bearbeiter:innen mit Bearbeitungsnotizen dazwischen, als wäre das ganze Geschehen der Schwarmintelligenz einer Wikipedia-Gemeinschaft entwachsen. Wer erzählt? Wer erschafft unsere Matrix? Was ist Wahrheit? Evidenz? Identität? Und welchen Sinn konstruieren wir uns in einem Leben, das nicht mehr als kohärente Einheit empfunden wird, sondern nur noch als "Summe der Unternehmungen in Raum und Zeit"? 

Die titelgebenden Grottenolme, die dem Forscherteam in der Höhle begegnen – Leroy: "Was ist das denn? … Da floatet so ein Ding/ Hä? HAA!" – stehen dabei für die Unwahrscheinlichkeit der Existenz schlechthin. Leroy: "Die materielle Welt scheint nicht ihre angestammte Domäne zu sein … Die Schroffheit ihrer Umgebung steht im krassen Widerspruch zu der augenscheinlichen Verletzlichkeit ihrer Körper. Es erscheint irgendwie unlogisch, dass sie überhaupt existieren." Und eben: Trotzdem sind sie da.

Wenn Identitäten sich verflüchtigen

Gärtners Stück bildet somit ein offenes Konstrukt zwischen verheißungsvoller Auflösung und existenzieller Verortung, produktiver Verunsicherung und haltloser Angst, Ausstiegsutopien und Bewahrungsimpulsen. Ist es nicht durchaus auch attraktiv, fragt sich Leroy im Dunkel der Höhle, "zumindest kurzfristig aus dem System des Welthandels herausgelöst" zu sein "und somit als Konsument:innen auch nicht länger in einem globalpolitischen Verantwortungsverhältnis" zu stehen? Könnte es gar Vorteile haben, wenn sich unsere Identitäten verflüchtigen, die ja sowieso "im Grunde genommen nur so etwas wie Kampfbegriffe [sind], die es eigentlich nur braucht, um mit ihnen strukturelle Ungleichheitsverhältnisse und, verbunden damit, auch konkrete individuelle Verletzungspotenziale adressierbar zu machen oder um die Ungleichheitsverhältnisse überhaupt erst herzustellenden und Verletzungen herbeizuführen"? Oder träte just das Gegenteil in Kraft, sodass wir in dieser "idealen Welt, wo niemand Macht über eine andere Person ausübt, … gewissermaßen freiflottierende experimentelle Aquarelle in Space“ wären "und als solche vorbildliche neoliberale Subjekte"? Diese und viele andere Überlegungen bleiben in wuseliger Bewegung wie die Olme im Teich. 

Wie die Sache ausgeht, sei an dieser Stelle nicht verraten. Nur so viel: Wer Lust hat, die vermeintliche Matrix des eigenen Lebens einmal zu verlassen, ist in Philipp Gärtners "OLM" genau richtig. Gemäß der Parole: "Hä? HAA! …Was ist das denn?"

 

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