Hinter den Mauern der Dominanzgesellschaft 

Von Verena Großkreutz

Heidelberg, 30. April 2022. Die Diversität unserer Gesellschaft spiegeln die Landes-, Stadt- und Staatstheater im deutschsprachigen Raum kaum wieder. Weder hinter und auf der Bühne, noch im Publikum. Die Theater sind nach wie vor veraltete, hierarchisch aufgebaute Betriebe. Ihre Ensembles bestehen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – aus weißen Schauspieler:innen, die vor einem überwiegend elitär-bürgerlichen und akademischen Publikum spielen. Da braucht man sich nichts vorzumachen: Hinter den gerne zur Schau gestellten toleranten und weltoffenen Attitüden der Intendanzen kann die Realität oft nicht mithalten. Wie gesagt: Ausnahmen bestätigen die Regel.

Was hinter den Theatermauern an Alltagsrassismus vor sich geht, tröpfelt nur ab und an mal ins Licht der Öffentlichkeit. Denn was rassistisch ist, entscheiden nicht die Betroffenen selbst, sondern die Deutungshoheit liegt in weißer Hand: "Das hat er doch nicht so gemeint." "Der ist eigentlich ein ganz Netter." "Stell dich nicht so an." "In Afrika werden Weiße ja auch diskriminiert." Phrasen, die Künstler:innen mit Migrationshintergrund oft genug zu hören bekommen, wenn sie versuchen, sich gegen diskriminierende Äußerungen zu wehren. Phrasen, wie sie ständig auch in anderen Bereichen der Gesellschaft gedroschen werden: wirr und unreflektiert, verletzend, grenzüberschreitend, unverschämt, ignorant. Bloß im Theater würden die meisten Zuschauer:innen solcherlei wohl nicht verorten.

TOP Factro GP 4443 Nicole Marianna Wytyczak kleinOne-Woman-Show mit politischer Sprengkraft – Şafak Şengül in Ayşe Güvendirens "R-Faktor. Das Unfassbare". © Nicole Marianna Wytyczak

Die in Wien geborene Regisseurin Ayşe Güvendiren hat diesen Alltagsrassismus an deutschen Stadttheatern in ihrem Stück "R-Faktor. Das Unfassbare" sehr pointiert aufs Korn genommen: sehr krass, sehr bitter, sehr bissig-lustig. Sie hat das Stück auch selbst in Szene gesetzt, 2021, als ihre Diplominszenierung an der Münchner Otto Falckenberg Schule, in einer Kooperation mit den Münchner Kammerspielen. Sie hat in "R-Faktor" neben ihren eigenen Erfahrungen, die sie als Hospitantin und Regieassistentin gemacht hat, gut 30 Interviews verarbeitet, die sie mit Betroffenen geführt hat, die wegen ihrer Hautfarbe, ihres Namens, ihrer Kleidung an Schauspielschulen und Theatern rassistisch diskriminiert wurden.

Der Rassismus-Faktor und seine Reproduktion

Da mobbt das Ensemble und die Regie eine Schauspielerin, die muslimischen Glaubens ist. Da nennt ein Regisseur die Assistentin permanent „Brownie“ und lobt die körperliche Attraktivität "afrikanischer" Frauen. Da offenbaren die Macher:innen eines Kinderstücks krasse Wissensdefizite bei der bühnenbildtechnischen Aneignung "afrikanischer Kultur". Da verlangt ein Regisseur von einer Schauspielerin die Übersetzung eines türkischsprachigen Textes. Sie: "Das kann ich nicht übernehmen." Er: "Warum nicht?" Sie: "Ich stamme nicht aus der Türkei." Jährlich bewerben sich etwa 5000 junge Leute auf die insgesamt 300 Ausbildungsplätze an staatlichen Schauspielschulen. Im Idealfall schaffe es höchstens eine BiPoc pro Jahr, an einer der Schulen angenommen zu werden, erfährt man.

Factor R GP 3967 Nicole Marianna Wytyczak kleinWeltoffen und doch vernagelt – Der Theaterbetrieb, das zeigt "R-Faktor" pointiert und entlarvend, hat noch viel aufzuarbeiten. © Nicole Marianna Wytyczak

"R-Faktor" ist eine erfolgreiche Produktion, die mit dem Hauptpreis des Körber Studio Junge Regie ausgezeichnet wurde. Und jetzt beim Stückemarkt hat "R-Faktor" die Menschen auch wieder sicht- und hörbar aufgewühlt. Inszeniert hat Güvendiren ihr Stück als One-Woman-Show − in minimalistischem, loungeartigem Bühnenbild (Theresa Scheitzenhammer), das von einem faltigen Vorhang dominiert wird, auf den Filmepisoden gebeamt werden. Davor agiert die ironisch, auch singend kommentierende Moderatorin, gespielt von Şafak Şengül, die auch gleich alle 30 Rollen in den Filmclips übernommen hat, wo sie virtuos, präzise und sehr lustig zwischen all den unterschiedlichen Figuren hin und her switcht – Perücken, angeklebte Bärte und große Brillen helfen ihr dabei. Alles wird comedyartig auf die Spitze getrieben. Ein Stilmittel, das der Regisseurin wohl ermöglicht, zum Unerträglichen eine gewisse Distanz aufzubauen. Diese Episoden mal alle live spielen zu lassen und dann mit einem gewissen Ernst, würde dem Stück vielleicht auch nicht schlecht stehen. Man wünscht Ayşe Güvendiren so sehr, dass "R-Faktor" einen regelmäßigen Platz auf den Bühnen finden wird. Es wäre so wichtig.

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R-Faktor. Das Unfassbare
von Ayşe Güvendiren
Regie, Recherche, Textcollage: Ayşe Güvendiren, Bühne: Theresa Scheitzenhammer, Kostüme und Maske: Melina Poppe, Dramaturgie: Carlotta Huys, Kamera und Schnitt: Louis Dickhaut, Schnitt: Oliver Buchalik, Licht: Maxi Blässing und Dominik Büchl, Ton: Friedo Günther, Video: Markus Bührend und Jens Baßfeld, Sounddesign und Musik: Sophia Jani.
Mit: Şafak Şengül
Produktion: Münchner Kammerspiele und Otto Falckenberg Schule
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

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