Bildungsfernes Kind aus Raucherhaushalt


Von Falk Schreiber

Heidelberg, 2. Mai 2022. Nach 95 Minuten Theater kommt die Nachbereitung. Man lästert über das Nachbarpublikum: "Rechts neben mir saß eine, der hat man angesehen, dass die das nicht verstanden hat." Man resümiert das Gesehene: "Ich fand die Barbies schwierig. Barbies mit Piepsstimme, ich brauch’ das nicht." Und am wichtigsten: "Gehen wir noch ein Bier trinken?" Nur dass Sarah Kilters "White Passing", vom Schauspiel Leipzig zu Gast beim Heidelberger Stückemarkt, an dieser Stelle noch gar nicht endgültig vorbei ist. Meriam Abbas, Julia Preuß und Bettina Schmidt schlüpfen in die Rolle eines abgebrühten Theaterpublikums, so wie sie zuvor schon im atemberaubenden Wechsel Rollen an- und auszogen, und führen Foyersmalltalk.

Kilter wirft sich mit aller Macht in ihr eigenes Stück "White Passing", uraufgeführt bei den Berliner Autor:innentheatertagen 2021 und mittlerweile im Leipziger Repertoire. Es geht um eine junge Frau, geboren in den Neunzigern in Berlin, man sieht ihr den Migrationshintergrund nicht an und der Name verrät ihn auch nicht, aber er ist da, also bewegt sie sich zwischen der Bürgerlichkeit Charlottenburgs und dem migrantischen Wedding. Kilter: geboren 1994 in Berlin, aufgewachsen zunächst im Wedding, nach der Trennung der Eltern in Charlottenburg, den Migrationshintergrund sieht man ihr nicht an. Wie sorgt man dafür, dass so ein Stück nicht als Eins-zu-eins-Bekenntnistheater der Autorin gelesen wird?

5905 21072021 white passing foto tom schulze 0312 kleinMaximale Stilisierung – Christoph Ernsts Bühnenbild zu "White Passing" von Sarah Kilter in der Regie von Thirza Bruncken. © Tom Schulze

Uraufführungsregisseurin Thirza Bruncken entscheidet sich: für maximale Stilisierung. Und für gnadenlose Ironisierung. "White Passing", dieser Schwebezustand zwischen den Welten, wird beschrieben als Party, bei der das Geburtstagskind fehlt: Ihmchen hat keine Lust auf Hipster-Getue am Charlottenburger Savignyplatz und ist in die alte Hood verschwunden. Bloß dumm, dass die Hipster da auch längst angekommen sind. Wodurch sich ein Diskursraum entwickelt, in dem Deutschland-Klischees, das Aufstiegsversprechen durch Bildung, fetischisierter Deutschrap und traumatische Kindheitserfahrungen wie Schüsse in den Saal knallen.

Abbas, Preuß und Schmidt spielen das mit Mut zur Selbstentäußerung, während Christoph Ernsts Ausstattung ihnen jegliche Individualität verweigert. Die Bühne ist eine riesige, gewebte Karotasche (die von einer Kollegin treffsicher als "Türkenkoffer" identifiziert wird, was die Diskussion auslöst, ob man auf der Bühne mit Assoziationen zu solcherart rassistischen Begriffen überhaupt arbeiten sollte), gefüllt mit ebenso riesenhaftem Alltagskram, Feuchttüchern, Schokoladentafeln, Tampons. Die Figuren derweil sind puppenhaft erstarrte Gestalten, die nur noch grell piepsend kommunizieren können. Wenn man sich ein Theater vorstellt, das auf jegliche Schauspielvirtuosität verzichtet, auf Mimik, Gestik, Nuancen: voilà. Wenn man sich ein Theater vorstellt, das seinen Schauspielerinnen eine nahezu übermenschliche Leistung abverlangt: ebenso voilà.

Publikumsbeschimpfung mit persönlicher Agenda

Im dramatischen Sinne passiert eigentlich nichts. Erzählt wird wenig, stattdessen entspinnt sich ein Assoziationsreigen in der Tradition von René Pollesch und Elfriede Jelinek. Anders als bei diesen beiden Autor:innen geht es Kilter aber nicht um eine politische Agenda, sondern nur darum, sich selbst gesellschaftlich einzuordnen, als "bildungsfernes Kind aus einem Raucherhaushalt". Regisseurin Bruncken lässt dazu "Deutschland in Spiegelstrichen" spielen, eine Art Nationalitätsbingo zu dröhnendem Elektropop mittelcooler Ausprägung. Was unglaublich unterhaltsam ist, die klassistische Schärfe des Ansatzes aber unterläuft und inhaltlich auf Nummer sicher geht. "Woran erkennt man einen Deutschen, der nichts gegen Ausländer hat? – Er sagt es." Natürlich lacht da der ganze Saal.

5899 30062021 white passing foto tom schulze 0165 kleinDrei Barbies mit Piepsstimmen – Julia Preuß, Bettina Schmidt und Meriam Abbas spielen in diesem durchironisierten Setting mit rasantem Mut zur Selbstentäußerung. © Tom Schulze

Im Grunde bleibt der Abend eine hochtourige, kreative, sprachmächtige Publikumsbeschimpfung. Deutsches Theater seien Stücke mit Titeln wie "AfD, schlimmschlimm", wird an einer Stelle behauptet, geschrieben für ein Publikum, das keine AfD wähle. Das ist böse, aber es ist auch ein Klischee, dessen zweifelhafter Wahrheitsgehalt hier für einen Gag erhalten muss.

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White Passing
von Sarah Kilter
Regie: Thirza Bruncken, Bühne und Kostüme: Christoph Ernst, Licht: Thomas Kalz, Dramaturgie: Marleen Ilg, theaterpädagogische Betreuung: Babette Büchele
Mit: Meriam Abbas, Julia Preuß, Bettina Schmidt
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause
Uraufführung: 4. September 2021

www.schauspiel-leipzig.de
www.deutschestheater.de

 

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