Puppentheater des Grauens

von Falk Schreiber

Heidelberg, 5. Mai 2022. Wenn man schreibt, dass Schauspieler:innen Schießbudenfiguren darstellen würden, dann ist das in der Regel nicht freundlich gemeint. Dann heißt das: Individualität, Einfühlung, halbwegs professionelle darstellerische Fähigkeiten braucht man hier nicht zu erwarten, die Figuren treten kurz auf, zeigen wenig und werden abgeschossen. In Rieke Süßkows Inszenierung von Anna Neatas "Oxytocin Baby", entstanden am Schauspielhaus Wien und als Gastspiel beim Heidelberger Stückemarkt zu sehen, ist die Schießbudenhaftigkeit dagegen ästhetisches Konzept: Mirjam Stängls Bühne ist ein Kasperltheater, in dem die Darsteller:innen langsam ins Sichtfeld fahren, Puppen, denen durch billige Babymasken jegliche Individualität genommen wurde (Kostüme: Sabrina Bosshard). Kurz bewegen sie sich ruckartig und mechanisch, dann werden sie abgeschossen, von mal kitschigen, mal fordernden Popsongs mit dem Wort "Baby"  im Titel.

Baby, das ist die von Jennifer Garner gespielte Hauptfigur des 1987 erschienenen Tanzfilms "Dirty Dancing", in dem ein Schwangerschaftsabbruch eine zentrale Funktion der Handlung einnimmt. Und an "Dirty Dancing" orientiert sich auch "Oxytocin Baby": Baby also wird ungewollt schwanger (im Film geschieht dies einer Nebenfigur, aber das ist nicht wirklich wichtig). Das Kind will sie nicht bekommen, was wenig verwunderlich ist, weil der Kindsvater den Spitznamen "Schleim" trägt und sich auch genauso benimmt.

Vorbild Gretchentragödie

Also begibt sie sich auf eine träumerische Reise durch die Welt der abgebrochenen Schwangerschaften: Zunächst geht es zu einem unangenehmen Gynäkologen, dann zu zwei sogenannten „Engelmacherinnen“, die sich als Marie Baschtarz und Marie Bernhuber entpuppen, die 1913 in Wien wegen kommerziell durchgeführter Schwangerschaftsabbrüche zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, später taucht dann auch noch Susanne Margaretha Brandt auf, eine Frankfurter Magd, die das Vorbild für die Gretchentragödie in Goethes "Faust" darstellt. Und Marilyn Monroe, die mehrere Fehlgeburten hatte. Alle hinter Masken, alle Puppen. Schießbudenfiguren, "Cry Baby".

Oxytocin Baby MatthiasHeschl"Sie wollen, dass ich oxytoniere!  © Matthias Heschl

Aber: Das Maskenhafte, das Entindividualisierte verweist vor allem darauf, dass diese Figuren nicht eins mit sich und vor allem mit ihren Körpern sind. Körper, das ist in "Oxytocin Baby" etwas, das splittert, knackt und blutet, etwas, das Schmerzen verursacht, und von dem man sich abspaltet. Süßkows Entscheidung, Neatas Text als Puppentheater des Grauens zu inszenieren, ist also durchaus stimmig. Es macht den gerade mal 80 Minuten langen Abend allerdings auch höllisch anstrengend.

Wenn das Baby die Maske abzieht

Vorgegeben ist ein extrem artifizieller Ton, der praktisch nie variiert wird. Textfläche um Textfläche stürmt auf das Publikum ein, unterbrochen immer wieder von Popsongs, die das Geschehen kommentieren, ironisieren, dekonstruieren. "Hit me Baby one more time." "Baby, it’s cold outside." "Bang Bang, my Baby shot me down." Es sind Songs, die immer Gewalt transportieren, die übergriffig sind und kalt, und sie sie beschreiben die kalte Welt, der Baby ausgesetzt ist. Für das Publikum ist das unangenehm, es nervt auch ziemlich. Aber was ist ein genervtes Publikum gegen eine junge Frau, der der Gynäkologe einen blutigen Zellklumpen vor die Nase hält, "wer Sex haben kann, der muss das auch aushalten"?

Ein Problem an "Oxytocin Baby": Empowernd ist an diesem Abend nichts, auch wenn Baby gegen Ende eine Hoffnung formuliert. "Sie wollen, dass ich oxytoniere", quäkt das Puppenwesen da in Anspielung auf das "Kuschelhormon" Oxytocin. "Aber ich mach’s nicht." Dieses "Ich mach’s nicht" ist ein Hinweis darauf, dass die Figur einen Willen haben könnte, etwas, das jenseits steht von der kalten Welt, den Zwängen und der Verachtung, die sich in Namen wie "Schleim" manifestiert. Das wäre jetzt der Moment, in dem sich die Schießbudenfigur in einen Menschen verwandeln könnte, der Moment, in dem Baby die Maske abzieht.

Aber dann ist doch nur das Stück zu Ende.

 

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Oxytocin Baby 
von Anna Neata 
Regie: Rieke Süßkow, Bühne: Mirjam Stängl, Kostüme: Sabrina Bosshard, Musik: Belush Korenyi, Licht: Christoph Pichler, Oliver Mathias Kratochwill, Ton: Benjamin Bauer, Max Windisch-Spoerk, Dramaturgie: Lucie Ortmann 
Mit: Aleksandra Corovic, Marlene Fröhlich, Lea Gordin, Sophia Löffler, Rebecca Katharina Lorenz, Til Schindler, Victoria Sedlacek, Sarah Zelt 
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause 

www.schauspielhaus.at
 

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