Wir im Tier, das Tier in uns

Von Verena Großkreutz

Heidelberg, 1. Mai 2022. Der Dodo, ein großer flugunfähiger Vogel, starb 1662 aus, weil er zu freundlich, neugierig und zutraulich gewesen war. Er hatte keine Angst vor den Menschen, die seinen Lebensraum, die Insel Mauritius, damals okkupierten. Er kannte sie ja gar nicht. So wurde er zur leichten Beute. Eine der vielen kleinen Geschichten, die die "Revue. Über das Sterben der Arten" erzählt, die jetzt als Gastspiel des Theater Bremen im Alten Saal zu sehen war.

Ein langer Laufsteg durchkreuzt den Raum. Gleißendes Licht blendet, Nebelschwaden steigen auf. Zu harten, gleichmäßig pulsierenden Beats marschieren die sieben Akteur:innen in flottem Tempo hintereinander über den Steg, verschwinden durch die Tür des Saals, erscheinen wieder, marschieren an der Seite zum Ausgangspunkt zurück, und wieder über den Steg, und wieder zurück. In scheinbar ewigem, nicht enden wollendem Kreislauf verschwinden sie und tauchen wieder auf. 70 Minuten lang. Nur selten gibt es Breaks, nur punktuell verlangsamt sich das Tempo.

Revue 4 Foto Jirg Landsberg KleinKörper, die durch kleinste Variationen zu Tieren transformieren – "Revue. Über das Sterben der Arten" von Jan Eichberg, Felix Rothenhäusler, Theresa Schlesinger. © Jörg Landsberg

Ihre Bewegungen, ihre Körperhaltungen verändern sich von Steglauf zu Steglauf, ihr Gang wird elastischer, wippend, wiegend, wankend, die Arme schwingen stärker. Es kommen Requisiten dazu, mal ein Motorradhelm auf den Kopf, mal deutet der Hemdärmel einen Rüssel an. Die Gesichter bleiben meist emotionslos, ernst. Die Blicke heften sich manchmal neugierig oder abweisend an die einen oder anderen Augenpaare im Publikum. Es ist krass, wie schnell ganz kleine Veränderungen Assoziationen in eine tierische Richtung lenken. Es geht hier ganz offensichtlich nicht darum, Tiere naturalistisch darzustellen. Das ist das Geniale an diesem Abend. Es geht um eine körperliche Annährung an die nichtmenschlichen Erdbewohner. "Wir im Tier, das Tier in uns", ist das Motto des Abends.

Erscheint da gerade der Dodo?

Da schreitet die eine in stolzer Körperhaltung mit erhaben schweifendem Blick über den Steg und erinnert an eine elegante Giraffe. Da nähert sich die andere durch Mikrozuckungen im Halswirbelbereich und flattrige Hände einem nervösen Laufvogel an. Die Decke zwischen T-Shirt und den gebückten Rücken gestopft, klar: Schildkröte. Um den Kopf drapierte Tücher wirken im Zusammenspiel mit nachfedernden Kniegelenken und schwingenden Armen wie der Kopfschmuck eines exotischen Vogels. Oder erscheint da gerade der Dodo? Schließlich wird er korrekt als Raphus cucullatus bezeichnet, das heißt: "kapuzentragender Nachtvogel". Und so sah er auch aus. Die Musik ist eins mit den Metamorphosen der Körper, variiert, mischt in den Beat unterschiedliche Klänge, Perkussives, Geräusche. Verdichtet sich, wird wieder purer.

Abwechselnd klinken sich die Schauspieler:innen kurz aus dem Kreislauf aus, treten ans Mikrofon und erzählen vom Entstehen und Aussterben einzelner Arten: vom Kurznasenbär etwa, vom Haastadler, von den Wandertauben oder vom Pyrenäensteinbock, der im Jahr 2000 durch den Menschen ausgerottet wurde. Verbal bleibt es bei einer Handvoll verschwundener Lebewesen, bleibt man hilflos, ja sprachlos angesichts der Tatsache, dass jeden Tag 150 Arten weltweit aussterben, durch Umweltzerstörung, durch aktive Ausrottung.

Revue 5 Foto Jirg Landsberg kleinWann folgt in dieser Prozession der Mensch? – Auch diese Frage stellt "Revue. Über das Sterben der Arten". © Jörg Landsberg

Es ist eben genau diese besondere, ungewöhnliche Form des Abends, die es dem Regisseur Felix Rothenhäusler und seinem Team ermöglicht haben, diese Sprachlosigkeit zu durchbrechen: um die Geschichte vom unerbittlich fortschreitenden Verschwinden der Arten mit theatralen Mitteln zu erzählen. Der Fluss ständig sich transformierender Körper entwickelt eine ungeheure Energie, eine immense Sogwirkung und Gewalt, die sinnlich, ja körperlich fühlbar macht, was sonst bloße Statistik ist. Der Abend trifft ins Herz, rührt an, rüttelt auf. Und macht klar: Von diesem unaufhaltsamen Gehen wird auch der Mensch selbst nicht verschont bleiben. Auch er wird eines Tages verschwinden. Wie auch immer.

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Revue. Über das Sterben der Arten
von Jan Eichberg, Felix Rothenhäusler und Theresa Schlesinger
Regie und Bühne: Felix Rothenhäusler, Mitarbeit Bühne: Carla Maria Ringleb, Kostüme: Elke von Sivers, Licht: Norman Plathe-Narr, Musik: Jo Flüeler und Moritz Widrig, Dramaturgie: Theresa Schlesinger, choreografische Mitarbeit: Andy Zondag
Mit: Annemaaike Bakker, Nadine Geyersbach, Irene Kleinschmidt, Alexandra Llorens, Siegfried W. Maschek, Matthieu Svetchine, Andy Zondag.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
Uraufführung: 29. Oktober 2021

www.theaterbremen.de

 

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