Schämt euch!

Von Verena Großkreutz

Heidelberg, 3. Mai 2022. "Ich wünsch dir Liebe ohne Leiden." Ganz ironiefrei singen Anna Schmidt und Lukas David Schmidt am Ende gemeinsam Udo Jürgens’ Song. Der passt. Erstaunlicherweise. Anrührend, kitschfrei.

Diese Wirkung wurde erspielt durch die beiden charismatischen Darsteller:innen in diesem Zweipersonenstück. Es entspricht aber auch der Logik des Abends, das er sich so auflöst. Denn in Susanne Frielings Stückentwicklung "Baby don’t hurt me" prallen zwei diametrale Kräfte aufeinander: Nabokovs Roman "Lolita" (in dem bekanntermaßen das Mädchen Dolores Haze zum Missbrauchsopfer des pädophilen Literaturwissenschaftlers Humbert Humbert wird). Und: die jugendlich-feministisch aufbrausende Power der 19-jährigen (Noch-Laien-)Schauspielerin und Schriftstellerin Anna Schmidt. Eine Seite muss halt gewinnen. Und Anna Schmidt packt sie alle. Eine Gratwanderung zwischen Fiktion und Realität. Wann Anna Anna ist und wann Dolores und wann Lukas Lukas ist oder Humbert Humbert: Das sind fließende Übergänge. Es geht darum, die beiden Pole – männlich-weiblich – auszuloten, irgendwie zueinander zu finden, ohne die eigene Freiheit, die eigenen Sehnsüchte vollends aufzugeben.

 Baby don hurt me 13 Klein Frauen, wehrt euch! – Anna Schmidt in "Baby Don’t Hurt Me" in der Regie von Susanne Frieling. © Joachim Dette

Er fragt sie, ob er sie filmen dürfe. Sie lässt ihn gewähren. Er, Humbert Humbert, sei kein Übeltäter, sondern ein Wohltäter. Wer würde sich sonst um Dolores kümmern? Und zahlt Liebesdienste mit Gummibärchen.

Autobiografisches mischt Anna Schmidt mit selbst verfassten Fantasy-Geschichten, aus denen sie immer wieder Passagen vorliest. Im Mittelpunkt: Melissa Turia, die gerade ihre Zauberkräfte entdeckt hat. Lukas David Schmidt, auch noch jung, spielt sowohl Nabokovs mittelalten Humbert Humbert, geht aber gleichzeitig in der Selbstfindungsgeschichte Anna Schmidts respektive ihres Bühnen-Alter-Egos auf. Er mutiert. Was zur zentralen Schnittstelle führt: Während er Nabokovs Text spricht, in dem es um nichts weniger als eine Vergewaltigung geht ("Ich drängte ihre Weichheit ins Zimmer zurück … Ich fetzte ihr das Hemd vom Leib. Ich riss den Reißverschluss auf und zog den Rest herunter" usw.), entkleidet sie ihn – freilich ohne Gewalteinwirkung – und zieht ihm ein weißes, langes Kleid an. Das eine hebt sich im anderen auf.

Jetzt ist Platz für die große wütende Selbstbefreiungsrede Annas: "Frauen, wehrt euch, macht es nicht so wie Dolores, lasst euch nicht ausbeuten, lasst euch nicht zum Sex zwingen. Ich hätte mich gewehrt. Schwaches Geschlecht? Frauen gebären unter Schmerzen usw. Wenn ich ein Theaterstück schreiben würde, handelte es von Menstruation." Und schmeißt einen Haufen Tampons in den Raum. Davor hatte sie schon den gruseligen "Barbie Girl"-Song von Aqua karaoked und seinen frauenfeindlichen Inhalt entlarvt. Die Frau als Projektionsfläche männlicher Gelüste? Pervers sei das: "Frauen mit Puppen gleichzusetzen, mit denen man dann machen kann, was man will. Schämt euch!" Gut, diese Wut!

Was erwartet die Gesellschaft von Frauen?

Das Bühnenbild aus dunklen Holzbalken deutet die Umrisse eines Hauses an. Grüne Zimmerpflanzen bilden einen kleinen Urwald, dazwischen ein Sessel, eine Videokamera und ein Kinderspielhäuschen auf Rollen mit allerlei Spielzeug drin. Darin sich Anna gerne verzieht. Ihre kindliche Seite. Dann aber wirkt sie wieder sehr erwachsen. Mal kuschelt sie mit zwei Stoffeinhörnern. Dann schwingt sie feministisch befeuerte Reden. Was erwartet die Gesellschaft von den Frauen?

Baby don hurt me 11 KleinMänner, hört zu! – Lukas David Schmidt in "Baby Don’t Hurt Me". © Joachim Dette

Anna Schmidt thematisiert auf der Bühne ausführlich ihre Behinderung, ihr verkürztes linkes Bein, das ihr Gehen beeinträchtigt. Zeigt ihre Operationsnarben in die Kamera, kommentiert sie. Sie will Schauspielerin werden, versprüht anarchische Energie. Lukas David Schmidt geht den Weg mit. Es ist ein aufwühlender, ein berührender Abend. Ein Abend, der Nabokovs "Lolita" mit Kraft und Fantasie einfach überschreibt.

 

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Baby don’t hurt me
Stückentwicklung in der Regie von Susanne Frieling
Regie: Susanne Frieling, Bühne und Kostüme: Cornelia Stephan, Dramaturgie: Thorben Meißner.
Mit: Anna Schmidt und Lukas David Schmidt
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
Uraufführung: 1. Dezember 2022

www.theaterhaus-jena.de

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