Am Anfang war die Leere

Heidelberg, 7. Mai 2022. "Dieses Stück ist leer. Ein Loch." Der Techniker, der diese Worte den beiden Youngsters auf der Bühne missmutig entgegengrummelt, bevor er wieder rauchend in seiner Technikkabine verschwindet, hat sie wahrlich nicht freundlich gemeint. Irgendwie hatten Xavier und Miguel es geschafft, als 18-Jährige auf einem der bedeutendsten Theaterfestivals Madrids zu landen. Wobei … irgendwie? Wenn die beiden ehrlich sind, ist es Miguels Mutter gewesen, die über gute Kontakte in die Stadtverwaltung … Doch, Moment. Verlief diese Geschichte nicht ganz anders?

Versuchen wir’s so: Mit 18 Jahren inszenierten Xavier und Miguel ihr erstes Stück in Madrid, welches zu einem großen Erfolg wurde. Oder so? Mit 18 Jahren scheiterten zwei Jungs, die sich zuvor in Liebe zu der Schauspielerin Barbara den Namen Los Bárbaros gegeben hatten, mit ihrer ersten Produktion derart grandios, dass sie sich hinterher zerstritten. Oder auch: In ihrem ersten Stück sangen Xavier und Miguel mit dem begeisterten Publikum das Bergmannslied der Heiligen Barbara, während die Schauspielerin Barbara im Zuschauerraum aufsprang und kämpferisch die Faust reckte, ein Moment von politischer Schönheit. Oder war Barbara gar kurz nach Beginn der Vorstellung bereits gegangen?

Die unmögliche Kunst, die wir Theater nennen

Die Inszenierung "Las Explicaciones", zu Deutsch: Die Erklärung, der Madrider Kompanie Los Bárbaros bildet eine ideale Eröffnung des spanischen Gastland-Programms beim Heidelberger Stückemarkt. Es ist ein Abend über die schillernde Unzuverlässigkeit des Erzählens, bei dem am laufenden Band Geschichten erfunden, von anderen abgelöst, gänzlich widersinnig fortgesetzt oder neu rekombiniert werden. Ein Abend also, der mitten hineinzielt in die unmögliche Kunst, die wir Theater nennen, mit all seinen Imaginationen, Spekulationen, Räuberpistolen, seinem Spiel mit Realität und Fiktion, für das Los Bárbaros den Raum tatsächlich zunächst völlig leer räumt.

So blicken wir anfangs in meditativer Kontemplation auf eine Bühne, die nichts weiter zeigt als eine Leinwand, auf der nichts läuft, und eine Nebelmaschine, die nicht raucht. "Jeder Anfang", wird es später heißen, "ist dazu da, eine Leere zu füllen." Peter Brook wäre von dem Satz sicher entzückt. Ausgangspunkt der dann folgenden oral history bildet – unter Vorgabe einer angeblichen Authentizität – die allererste Inszenierung der Gruppe, an die sich indes nur die beiden Gründer Javier Hernando und Miguel Rojo erinnern können.

Filmschafe werden zu Pappe

Statt ihrer jedoch sehen wir Rocío Bello (die mit ihrem Stück „Mein Italienfilm“ auch für den internationalen Stückewettbewerb nominiert ist) und Elena H. Villalba in dem zirka zwanzigminütigen Eingangsfilm durch ländliche Gegenden streifen. "Brabos, Àvila, 2005" lesen wir in einer Einblendung. Und schon geht das Spekulieren los. Hier, heißt es, hätten Xavier und Miguel die Dramaturgie ihres ersten Stückes diskutiert. Es sei um die Frage gekreist, wie sich die beiden 18-Jährigen in Zukunft sehen, im Alter von 35 Jahren, um genauer zu sein, oder noch präziser: exakt also jetzt. Während Rocío Bello und Elena H. Villalba aka Xavier und Miguel Schafwiesen überqueren, Landwege entlang schreiten und in Kirchen sitzen, reiht sich Imagination an Imagination. Vielleicht werden sie Haus und Kinder haben? Vielleicht Musical-Stars werden? Oder Enzyklopädie-Verkäufer? Oder Mönche? Alles scheint möglich.

Später wird die Handlung auf die Bühne wechseln, auf der Bello und Villalba bereits begonnen haben, Objekte aus dem Film zu verteilen. Plötzlich pusten auf der Bühne wie im Film die Nebelmaschinen vor sich hin, Filmschafe werden zu Pappe, während man auf der Bühne echtes Dosenbier trinkt. Es wirkt, als unterhielten sich Film und darstellendes Spiel über ihre je eigene mediale Qualität. Was aber bleibt, wenn das Gezeigte letztlich in Imagination verharren muss? 

Das eigentliche Wesen enthüllen

Sie habe, sagt Rocio Bello, einmal eine Geschichte von Kafka gelesen. Darin erkläre er, dass Nüsse knacken keine Kunst sei. Deshalb würde es auch niemand wagen, ein Publikum zusammenzurufen und vor ihm, um es zu unterhalten, Nüsse zu knacken. Tue er es dennoch und gelinge seine Absicht, dann könne es sich eben doch nicht nur um bloßes Nüsseknacken handeln. Oder es handele sich um Nüsseknacken, aber es stelle sich heraus, das wir über diese Kunst hinweggesehen hätten, weil wir sie glatt beherrschten, und dass uns dieser neue Nussknacker erst ihr eigentliches Wesen zeige.

An der Bühnenrampe hatte die ganze Zeit ein Objekt im Dunkeln gestanden. Sein Knacken setzt am Ende den letzten Ton. 

 

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Die Erklärung / Las Explicaciones
von Los Bárbaros 
Übersetzung von Charlotte Roos 
Projektleitung: Javier Hernando, Miguel Rojo, Konzept: Rocío Bello, Elena H. Villalba, Javier Hernando und Miguel Rojo, Licht: Miguel Ruz, Bühne: Javier Hernando, Miguel Rojo, Film Visual, Creative Producción, Audiovisual Kamera und Schnitt: Pablo García Sanz, Ton und Mischung: Miguel Sánchez González, Produktion: Los Bárbaros, Koproduktion: Centro de Cultura Contemporánea Conde Duque.
Mit: Rocío Bello und Elena H. Villalba

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