Das letzte Exemplar namens Bernd

Ein Gespräch mit Christina Tscharyiski

In zweihundert, dreihundert Jahren … ja, was dann? Haben die Frauen die Macht übernommen – und sind trotzdem nicht glücklich. Warum das so ist, erzählt im Gespräch die Regisseurin Christina Tscharyiski, die mit ihrer Düsseldorfer Inszenierung "In den Gärten oder Lysistrata Teil 2" von Sibylle Berg für den Nachspielpreis des Heidelberger Stückemarkts nominiert ist.

Christina Tscharyiski, in Sibylle Bergs "In den Gärten oder Lysistrata Teil 2" blicken wir aus einer vielleicht gar nicht mehr so fernen Zukunft auf unsere längst vergangene Gegenwart, in der in Sachen Frauenemanzipation scheinbar so einiges schiefgelaufen ist. Während vom Mann, erschöpft vom Kampf um den Statuserhalt, nur noch ein kümmerliches Exemplar namens Bernd übriggeblieben ist, besitzen die Frauen zwar endlich die Macht – aber richtig glücklich sind sie dabei nicht. Was ist passiert? 

Christina Tscharyiski: Sie haben versucht, das Patriachat auszutricksen. So zumindest steht es in Aristophanes "Lysistrata"-Geschichte, an der sich Sybille Berg hier abarbeitet.  

In "Lysistrata" verweigern die Frauen von Athen und Sparta den Männern den Sex, um sie dazu zu zwingen, den Krieg zu beendet. 

Christina Tscharyiski: Auch gibt es Bezüge zu Aristophanes‘ "Weibervollversammlung". Darin wird berichtet, wie die Frauen von Athen des Nachts ihre Gatten betäuben, sich deren Kleidung anziehen und im Parlament darüber abstimmen, die Männer zu entmachten, um eine friedlichere und gerechtere Welt zu ermöglichen. Die Stücke wurden um 400 v. Chr. geschrieben. Unglaublich, dass wir heute immer noch dieselben Themen diskutieren. Bei Aristophanes allerdings scheitern die Frauen am Ende immer. Weswegen die Ausgangslage bei ihm zwar interessant ist, seine Stücke schlussendlich aber auch einen frauenfeindlichen Touch haben, im Sinne von: Die Frauen können es halt auch nicht besser.

Zudem: Es sind Komödien. Keine Tragödien. So richtig ernst scheint es ihm mit der Emanzipation nicht gewesen zu sein.  

Christina Tscharyiski: Eher heißt es: Die blöden Frauen. Eine Haltung, die es heute ja durchaus auch noch gibt. (lacht). Erstaunlicherweise. 

Und an dieser Stelle kommt Sybille Berg ins Spiel.

Christina Tscharyiski: Genau. Auch sie verwendet die Komödienform, in deren Tiefe aber eine sehr exakte, ironisch-zynische Analyse unserer Gegenwart schlummert. Oder besser gesagt: Der Kniff ist, dass sie aus der Zukunft auf unser Heute blickt. Wahnsinnig schwierig zu inszenieren, weil man immer so komisch ums Eck denken muss. Wir wandeln mit den Zuschauer:innen durch verschiedene Gärten, die eine Art Museum darstellen. Die klassischen Geschlechter sind in Auflösung begriffen. Die Männer fühlen sich verloren, weil sie nicht mehr wissen, wie sich ein echter Mann verhält; die Frauen fühlen sich verloren, weil sie eigentlich keine Männer mehr brauchen, da sie sowieso alles alleine hinbekommen. Trotzdem wird ihnen die ganze Zeit suggeriert, dass die klassische Paarbeziehung, die klassische heterosexuelle Kleinfamilie, das Ideal ist, welches es anzustreben gilt – obwohl niemand mehr so richtig daran glaubt bzw. wüsste, wie eine solche Konstellation herzustellen wäre.

Und so sieht man Lysistrata, der weiblichen Protagonistin, die von einem Lysistrata-Chor begleitet wird, und Bernd als letztem Überlebenden der Männer, der von einem Bernd-Chor begleitet wird, einen Abend lang zu, wie sie sich an diesem Ideal abarbeiten – und letztlich eben scheitern. Der Clou des Abends ist, dass wir uns bereits in einer ganz fernen Zukunft befinden, in der es gar keine Männer mehr gibt. 

Vielmehr nur noch Statuen: Ihre Bernds sehen aus wie aus Beton gegossen.

Christina Tscharyiski: Sie sind Museumstatuen und verkörpern unterschiedliche Männerbilder bzw. Rollen, die man als Mann möglicherweise versucht hatte einzunehmen. 

Einer der Bernds trägt ein ausladendes Kleid. Ein Mann, der das Weibliche zu adaptieren sucht? Oder selbst gerne Frau wäre?

Christina Tscharyiski: Der weichliche Mann, der sich die weiblichen Attribute aneignet. Dann gibt es den Hipster-Daddy, der ein Baby im Tragegurt vor dem Bauch trägt. Und natürlich den Cowboy …

… grundsätzlich breitbeinig unterwegs mit einem gesteigerten Interesse an seinen Genitalien. Sind das nicht eher zugespitzte Klischees?

Christina Tscharyiski: Ich würde eher sagen Rollen, die nicht natürlich gewachsen sind. Bernd und Lysistrata versuchen, Personen zu sein und Leben zu leben, die gar nicht an sie gebunden sind. Es mangelt ihnen an einer tatsächlichen Beziehung zu sich selbst bzw. ihren eigenen Bedürfnissen. Stattdessen versuchen sie etwas zu imitieren, das sie am ehesten mit dem wahren Leben assoziieren, weil sie es auf Social Media so erzählt bekommen. Insofern sind wir ja alle ein bisschen unsere eigenen Klischees.

 

Lysistrata2 SandraThenFallendes Monument: Jonas Friedrich Leonardi © SandraThen

Die Lysistratas, also die Frauen, sind – wie häufig bei Sybille Berg – gegenüber den Männern dabei jedoch viel produktiver und härter, weil sie jahrzehntelang durch die patriachalen Missstände gegangen sind.

"Wir arbeiten 18 Stunden am Tage", heißt es. 

Christina Tscharyiski: Was zeigt, dass die Frauen das neokapitalistische System, welches alle Konflikte überwölbt, noch viel mehr bedienen als ihre ausgesonderten Männer. Die Zukunft, die da beschrieben wird, ist eine ideale, vegane, gerechte, gegenderte Welt, die sich aber natürlich irgendwann als gar nicht mehr so ideal entlarvt. Wir haben als Setting ein extra kühles Bühnenbild gewählt, das aber gleichzeitig auch etwas von einem Spar hat. Es geht um Self-Care, ums Wohlfühlen. Aber durch den Raum weht eine kapitalistische Kälte. 

Die Paradoxie unserer Wellness-Gesellschaft: Alle sollen sich wohlfühlen – und trotzdem ist niemand zufrieden. 

Christina Tscharyiski: Weil eben alles zu einem Produkt wird. Auch man selbst. Sogar die Liebe wird konsumierbar. Der Kapitalismus suggeriert uns, dass wir für die Erreichung des idealen Lebens nur die richtigen Produkte kaufen und die richtigen Anwendungen buchen müssten. Aber das Ideal ist eben nicht erreichbar.

Wenngleich uns die Digitalmoderne mit ihrer unbegrenzten Verfügbarkeit in der Hinsicht große Versprechungen macht: Überall ideale Menschen, die man nur kurz anklicken muss, schon sitzen sie in der Bar, im Restaurant neben einem, während man den „Ausschuss“ einfach fortwischt. Das Blöde ist nur: Auch man selbst gehört immer mal wieder zum Ausschuss. Der soziale Druck, der dadurch entsteht, führt im Zirkelschluss dann wieder zurück zur Kleinfamilie. In die vermeintliche Sicherheit. Und so geht es immer weiter. 

Christina Tscharyiski: Sybille Berg beschreibt diese Situation sehr schön: Die alte Welt gibt es nicht mehr. Sie ist zerbrochen, gleichzeitig hat man noch keine neuen Formen des Zusammenlebens gefunden. Wir befinden uns in einem Zwischenzustand. Lysistrata und Bernd leben eigentlich in einer großen Depression, einer großen Erschöpfung. Am Ende fragt man sich: Geht es wirklich um die Geschlechter? Um die Auflösung der Geschlechter? Oder geht es nicht vielmehr um dieses System, aus dem es offenbar keinen Ausweg gibt. Dem es völlig egal ist, ob man Frau, Mann oder das dritte Geschlecht ist. Jede:r wird vor den Karren gespannt, bis er:sie nicht mehr kann. 

Es ist also nicht die Schuld eines falsch praktizierten Feminismus?

Christina Tscharyiski: Nein. Das war uns sehr wichtig: Wir wollten den aristophanischen Gag, dass auch die Frauen versagen, nicht wiederholen. Es führt ja auch zu nichts. Und es ist, glaube ich, auch nicht das, was Sibylle Berg interessiert. 

Der Kapitalismus ist aus patriachalen Strukturen erwachsen. Aber die Abschaffung der patriachalen Strukturen schafft den Kapitalismus nicht ab. Das ist der Denkfehler.

Christina Tscharyiski: Vielmehr schafft der Kapitalismus den Menschen ab. Es gibt im Stück einen Hidden Track, den wir aber nicht inszeniert haben. Darin tritt ein Ken-Chor auf, von den Frauen entwickelte Männer-Roboter, die langsam die Macht übernehmen, ständig Daten sammeln, während sie den Frauen den Nacken kraulen.

Lysistrata 1 SandraThenDurch den Raum weht kapitalistische Kälte: Cennet Rüya Voß, Friederike Wagner, Hanna Werth, Florian Lange, Jonas Friedrich Leonardi, Florian Mania © SandraThen

Warum haben Sie die Passage weggelassen?

Christina Tscharyiski: Wir schließen mit einem gemeinsamen Lied: "Das Individuum wird scheitern, aber der Kapitalismus wird siegen." Mir war es wichtig, dass wir als Gruppe enden, dass es nicht mehr um Männer und Frauen geht, sondern dass wir dem Kapitalismus am Schluss gemeinsam huldigen. Vielleicht, eben, sind wir ja doch stärker als das System.

Der Gang durch die Gärten hat tatsächlich auch etwas Paradiesisches. Es gibt sogar Momente, in denen sich Bernd und Lysistrata aka Adam und Eva fast an den Händen fassen. Gibt es doch noch einen Funken Interesse aneinander? 

Christina Tscharyiski: Wir haben im zweiten Lockdown geprobt, wo die Abstandsregeln besonders streng waren. Niemand durfte sich berühren. Bei der Premiere wurden die Bestimmungen gelockert, sodass alle etwas näher rücken konnten, aber auch nicht zu nah. Daraus ist dieses komische Umeinander-herum-Tänzeln entstanden. Manchmal kann ein starres Korsett bei den Proben auch Vorteile haben. (lacht) Mir war es wichtig, dass es noch die Ahnung eines Wunsches nach Nähe gibt. Gleichzeitig herrscht eine völlige Hilflosigkeit vor allem, was real ist. Im Digitalen mag die Begegnung noch funktionieren, aber im Realen nicht mehr. Wir haben es verlernt. 


Das Gespräch führte Dorte Lena Eilers.

 

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