"Gnadenlos, aber sehr lustig"

März 2022. Rafael Sanchez hat am Schauspiel Köln Thomas Melles "Ode" auf die Bühne gebracht. Nun wurde die Inszenierung für den Nachspielpreis des Heidelberger Stückemarkts nominiert. Mit Jakob Hayner spricht der Regisseur über den Streit der Identitäten im Theater und die Frage, ob Kunst die Welt verändern kann.

Rafael Sanchez, Thomas Melles "Ode" wurde 2019 am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt, knapp zwei Jahre später feierte Ihre Inszenierung in Köln Premiere. Warum wollten Sie den Text auf die Bühne bringen?

Rafael Sanchez: In den vergangenen zwei Jahren ist im Kunst- und Kulturbereich und auch in den Theatern viel passiert. Die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz hat sich radikal gestellt. Und die Debatten über Macht und Machtmissbrauch, strukturellen Rassismus und Teilhabe haben sich ausgeweitet. Das alles wird in "Ode" verhandelt.

Das Stück ist sehr böse, zynisch und sarkastisch. Eigentlich genau das, was mich am Theater normalerweise nicht sonderlich interessiert. Aber da ist eben auch dieser Humor, der das Ganze erträglich macht, und wenn man genau hinschaut, ist da sogar noch eine kleine Hoffnung, die durchschimmert.

Zudem hat sich das Thema Identitätspolitik ja eher noch zugespitzt. Es wird auch in der Zukunft viel gesellschaftlichen Sprengstoff bieten.

Für die Kölner Inszenierung hat der Autor ein Update verfasst. Was ist da dazugekommen? Und warum hat sich eine solche Aktualisierung angeboten?

Rafael Sanchez: Uns hat der Blick von Thomas Melle auf diese Zuspitzung interessiert. Was er letztlich geschrieben hat, kam für uns unerwartet. Die ersten drei Teile sind weitgehend unberührt geblieben. Er hat einen neuen Schluss geschrieben. Es ist eine Art albtraumhafter Ausblick in die Zukunft. Sinnzusammenhänge lösen sich auf, immer neue Egos betreten die Bühne. Die Szenen sind wie Sketche … Die Kunst verweigert sich, Sinn und Zweck zu erfüllen. Und daraus entsteht wiederum etwas Widerständiges. Durch die Hintertür kommt eine fast kindliche Spielfreude zurück auf die Bühne, die etwas Unkontrolliertes, Subversives hat.

Nach Zitaten von Oskar Maria Graf, Theodor W. Adorno und Bertolt Brecht setzt "Ode" mit dem Hinweis ein, dass wir es mit Figuren im öffentlichen Raum zu tun haben. Inwieweit beschreibt das Stück für Sie eine Krise des Öffentlichen?

Rafael Sanchez: Melle ist natürlich ein sehr genauer Beobachter, nichts entgeht ihm. Gnadenlos, aber eben sehr, sehr lustig. Man sagt das ja immer so schnell dahin, dass eine Komödie viel schwieriger zu machen ist als eine Tragödie, aber es stimmt wirklich. Drama wird uns buchstäblich in die Wiege gelegt. Ein Kleinkind kommuniziert praktisch nur über Schreien, Weinen, Pupsen … Erst mit der Zeit lernt es seine Befindlichkeiten differenzierter mitzuteilen. Komödie erfordert also zivilisatorischen Fortschritt.

Melle zeigt uns, dass ein beträchtlicher Teil der sich gegenüber stehenden Fraktionen in der Öffentlichkeit anscheinend diese Kleinkindphase noch nicht überwunden hat und ihre Befindlichkeiten über alles stellt. Mit logischen Argumenten oder wissenschaftlichen Studien, mit Aufforderungen zur Empathie, um andere Positionen zu akzeptieren, kommt man bei diesen Menschen nicht weiter. Rechtes Gedankengut schiebt sich unaufhaltsam in die Mitte der Gesellschaft. Und das ist nicht nur eine Krise, sondern eine Katastrophe.

Ode3 Foto Krafft Angerer webEs wird auch in Zukunft viel gesellschaftlichen Sprengstoff geben – Thomas Melles "Ode" in der Regie von Rafael Sanchez am Schauspiel Köln. © Krafft Angerer

Wir können beobachten, dass es bei öffentlichen Diskussionen immer öfter darum geht, wer überhaupt etwas sagen darf. Die "Grenzen des Sagbaren" werden zu einem identitären Programm. Für manche ein erster Schritt zu mehr Gleichheit, für andere eine fatale Entwicklung zum Tribalismus. Wie sehen Sie das?

Rafael Sanchez: Ich bewundere Menschen sehr, die tagtäglich Rassismus, Antisemitismus und Antifeminismus am eigenen Leib erfahren und sich weiterhin geduldig für eine bessere Gesellschaft engagieren. Ich muss aber gestehen, dass ich auch ein großes Verständnis habe und Sympathie hege für marginalisierte Gesellschaftsschichten, deren Geduldsfaden gerissen ist. Dass man als Betroffene:r kaum von Staat und Gesellschaft unterstützt wird und auf sich selbst gestellt ist und sich selber schützen muss, ist eine gesellschaftliche Bankrotterklärung. Und wenn man dann auch noch beschuldigt wird, sich abzugrenzen und einen Keil in genau diese Gesellschaft zu schlagen, dann ist das einfach nur eine ganz miese Täter-Opfer-Umkehr.

Um die Sache zuzuspitzen: Theater lebt vom öffentlichen Streit, vom Konflikt. Wenn auf der Bühne aber nur noch die Selbstbestätigung identitärer Ansprüche präsentiert wird, braucht man dann noch Theater?

Rafael Sanchez: Ich finde, da muss man schon bei der Fragestellung sehr aufpassen in welches Horn man bläst. Lebt Theater vom öffentlichen Streit, vom Konflikt? Lebt es nicht eher über den Versuch, einen Konsens herzustellen? Oder zumindest eine gemeinschaftliche Erfahrung zu machen? Und ist es wirklich so, dass auf der Bühne nur noch identitäre Ansprüche präsentiert werden? Ist es nicht eher so, dass bis jetzt in der Theaterhistorie eigentlich nichts anderes stattfand? Nur dass der Kreis der Akteur:innen sehr beschränkt war?

Die Entwicklung, die jetzt gerade stattfindet, ist in meinen Augen eine immense Bereicherung, aber die Rechten, die antifeministischen Fundamentalisten, die Online-Trolle und was sonst noch alles in dieser Empörungsbrühe schwimmt, die es sogar in den Bundestag geschafft hat, bläst zum Angriff, als wäre der berechtigte Wunsch nach Vielfältigkeit das Ende der Welt. Und wir lassen uns auch noch die Agenda von denen diktieren, versuchen, auf deren Niveau zu argumentieren. Gehen auf die absurde Behauptung ein, dass "man" nichts mehr sagen dürfte, niemanden mehr anschauen, geschweige denn ansprechen dürfte, dass "wir" unserer Identität beraubt werden. Wer ist dieses "Wir"?

Ich glaube, dass Menschen, die für Gleichberechtigung, Diversität und Demokratie eintreten, niemandem etwas wegnehmen wollen. Im Gegenteil, sie wollen allen ermöglichen, zu partizipieren.

In "Ode" wird das Problem des Theaters noch auf einer anderen Ebene verhandelt: Spiel und Schein sind für ein identitäres Programm überflüssig, wer die Grenzen der eigenen Erfahrung verlässt, macht sich unrechtmäßiger Aneignung verdächtig. Doch ist das nicht der aufklärerische Kern der darstellenden Kunst, die Kritik der Identität?

Rafael Sanchez: Egal was man spielt, sei es Phaedra, König Lear oder sich selbst, man kann ja nur aus der eigenen Erfahrung schöpfen und diese Reibung oder besser gesagt, diese Diskrepanz zwischen mir und König Lear oder meinem Selbstbild ist es, die uns bereichert und weiterbringt. Aber darum geht es ja gar nicht. Worum es geht, ist, dass endlich alle mitspielen dürfen. Dass die sogenannten Minderheiten endlich ihre Geschichten oder ihre Interpretationen des Kanons erzählen. Sie sollen aber selber entscheiden, was sie erzählen wollen und welche Themen sie bearbeiten möchten. Es wäre ja schrecklich, wenn die im Rollstuhl sitzende Regisseurin nur noch Stücke über Barrierefreiheit im öffentlichen Raum inszenieren dürfte.

Was denken Sie über die These, dass es sich bei den akademischen Diskursen auch in der Kunstwelt vor allem um elaborierte Codes eines selbstgerechten Milieus handelt, das damit die eigene Deutungsmacht abzusichern versucht, soziale Emanzipation so aber nicht befördert wird?

Rafael Sanchez: Selbstverständlich muss man aufpassen, dass die Diskussion nicht in der Blase der Kunstwelt hängen bleibt. Das betrifft jedoch jeden Bereich des akademischen Milieus. In Deutschland und in der Schweiz wird die große Sortierung und Lebensweg bestimmende Weichenstellung schon in der Grundschule vollzogen. Das Elternhaus gibt vor, wo man landen wird, und leider nicht das öffentliche Schulsystem und schon gar nicht das Interesse des einzelnen Kindes. Wenn wir verhindern wollen, dass nur ein elitärer Kreis das Wort führt, müssen wir die Gruppe der Erzählberechtigten größer ziehen.

Ode Foto Krafft Angerer web"Und ob ich an die Kunst glaube. An was denn sonst?", sagt Rafael Sanchez über seine "Ode"-Inszenierung. © Krafft Angerer

"Ode" zeigt die Widersprüche der Kunstwelt heute – inklusive "Betriebsbeschimpfung" –, ist dabei aber ein leidenschaftliches Plädoyer für die Kunst und die Kraft des Imaginären. Von der Kunst die Veränderung der Welt zu erhoffen, ist das zu viel oder gerade richtig? Glauben Sie noch an die Kunst oder ist das schon die falsche Frage?

Rafael Sanchez: Und ob ich an die Kunst glaube. An was denn sonst? Ich bin offen für Vorschläge.

Ich glaube allerdings nicht, dass sie die Welt verändert. Der Papst verändert die Welt, Adolf Hitler verändert die Welt. Nancy Pelosi, Angela Merkel, Putin verändern die Welt. Die Kunst ist wie der Sauerstoff. Sie ist einfach da, manchmal klar und schön, dann wieder verpestet, von toxischer Männlichkeit zum Beispiel, oder einfach nur abgestanden und miefig. Die Kunst muss man nicht schützen, was schützenswert ist, ist der Zugang zur selbigen. Jede:r soll sie benutzen dürfen und niemand hat das Recht, den Zugang zur Kunst zu kontrollieren.

Wer zu glauben meint, was gute Kunst ist, egal ob von rechts oder von links, und nur noch seine Ansicht gelten lässt, hat ganz sicher nichts mit Kunst zu tun.

 

Das Gespräch führte Jakob Hayner.

 

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