Eine Löwen-Odyssee

Von Falk Schreiber

Heidelberg, 3. Mai 2022. Wenn ein Theaterstück im südostasiatischen Sweatshop beginnt, dann erwartet man nicht unbedingt träumerische Unterhaltung. Aber weit gefehlt: Zwar muss der neunjährige Bangladescher Anand (Sibel Polat) in einer Fabrik Spielzeug herstellen, weil das Familieneinkommen nicht reicht, aber dieses Spielzeug hat es in sich.

Anand schreibt einen Brief an Gott, den er in einem Stofflöwen verpackt, weil: Der Löwe wird nach Europa verschifft werden, und Gott lebt in Europa, wo sonst? Und wenn Gott den Brief liest, erfüllt er Anand dessen sehnlichsten Wunsch: Anand will nicht mehr schuften, er will in die Schule. Und damit sich das finanzieren lässt, braucht seine Mutter einen Job. Als Leihmutter. Wäre cool, wenn Gott da was machen könnte.

Loewenherzen CT mittel 01 KleinEin Märchen, das die Globalisierung verstanden hat – "Löwenherzen" von Nino Haratischwili, hier mit Thomas Kaschel. © Consol Theater Gelsenkirchen

Nino Haratischwilis "Löwenherzen", ein Auftragswerk fürs Gelsenkirchener Consol Theater, ist als Gewinnerstück des Mülheimer KinderStückePreises 2021 in Heidelberg zu Gast. Und man kennt das von den Texten der Autorin für Erwachsene: Was mit sozialrealistischer Härte beginnt, verwandelt sich bald in ein Märchen mit Hang zum magischen Realismus. In "Löwenherzen" heißt das: Das Stofftier landet tatsächlich in Europa, bei einer zerstrittenen Familie in der deutschen Provinz, und weil der Sohn (Eric Rentmeister) für ein Schulprojekt Spenden in den Senegal schickt, geht es für den Löwen bald darauf nach Afrika.

Von dort reist das Tier mit den weltweiten Migrationsströmen über Mali zunächst nach Spanien und weiter nach Frankreich, wo ein Paar mit Kinderwunsch das mittlerweile ziemlich lädierte Tier in die Hände bekommt und in Indien einer Leihmutter schenkt. Diese wiederum bringt den Löwen ihren eigenen Kindern in die Heimat Bangladesch mit. Der Kreis ist geschlossen, nur der Brief lässt sich kaum noch entziffern, einzig das Wort "Ja" ist lesbar. Wie gesagt, ein Märchen. Aber eines, das die Globalisierung verstanden hat.

Angesprochen werden soll ein Publikum ab zehn Jahren, das dürfte angesichts der verwickelten Handlung mit ständigen Ortswechseln und Zeitsprüngen schnell an seine Verständnisgrenzen kommen (und spätestens als die Geschichte sich kurzzeitig in den Weltraum verabschiedet, ist auch der halbwegs volljährige Rezensent überfordert).

Und Gott sagt: Ja!

Aufgefangen wird die zeitliche Komplexität durch eine souveräne Beherrschung der szenischen Mittel: Regisseurin Andrea Kramer strukturiert die Löwen-Odyssee mit kurzen Zwischenansagen, die klarstellen, wo wir uns gerade befinden, derweil hübsche Zeichentrickvideos (Lars Detke) für Auflockerung sorgen. Zudem verwandelt sich das Darsteller:innentrio nie explizit in neue Figuren, durch Tonfall, Haltung und minimale Kostümanpassungen (Ausstattung: Stefanie Stuhldreier) wird aber deutlich, ob Thomas Kaschel jetzt ein trauriges Klavierwunderkind in der französischen Villa darstellt oder Polat eine alleingelassene Mutter im deutschen Vorort-Reihenhaus.

Loewenherzen CT mittel 05 KleinEin Stück, das trotz aller Fantasie die soziale Verankerung nicht verliert – Eric Rentmeister, Sibel Polat und Thomas Kaschel in "Löwenherzen". © Consol Theater Gelsenkirchen

"Löwenherzen" entpuppt sich also als herzerfrischende Weltreise, die das Kunststück beherrscht, trotz aller fantasievollen Lebensfreude ihre soziale Verankerung nicht zu verlieren. Armut, Migration, Entfremdung in der heterosexuellen Kleinfamilie – das ist alles da und wird auch benannt. Am Ende aber erhält man doch eine Antwort von jemandem, der sich als Gott identifizieren lässt: "Ja." Alles wird gut.

 

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Löwenherzen
von Nino Haratischwili
Regie: Andrea Kramer, Bühne und Kostüme: Stefanie Stuhldreier, Musik: Radek Fidek, Dramaturgie: Sylvie Ebelt, Theaterpädagogik: Ulrike Czermak, Barbara Grubenbecher
Mit: Thomas Kaschel, Sibel Polat, Eric Rentmeister
Dauer: 1 Stunde, keine Pause
Premiere: 17. Januar 2021
Publikumspremiere: 17. August 2021

www.consoltheater.de

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