Was wahr ist und was nicht

von Falk Schreiber

6. März 2022. "Sie wissen, warum Sie hier sind?", fragt der Therapeut, und, ja, Eva weiß es. Sie lief Amok, hat eine Grundschulklasse getötet, es ist korrekt, dass sie in der geschlossenen Psychiatrie des Otto-Wagner-Spitals in Wien ist. Nur dass es wahrscheinlich gar keinen Amoklauf gab: Eva lügt. Notorisch. In die Psychiatrie ließ sie sich einliefern, weil ihr Bruder hier behandelt wird, und den will sie retten. Oder?

Hannah Gehmachers Dramatisierung von Angela Lehners Roman "Vater Unser" am Schauspiel Hannover macht es einem nicht leicht. Weil die gesamte Geschichte aus der Sicht der Protagonistin Eva erzählt wird, aber Eva ist keine zuverlässige Erzählerin. Sondern jemand, der augenscheinlich Probleme hat, aber es sind andere Probleme als die, die berichtet werden. Erlebte Eva als Kind einen Missbrauch? Sind die Eltern getrennt, ist der Vater Alkoholiker? Stirbt der Therapeut im Laufe des Geschehens? Und gibt es den Bruder tatsächlich? Eva erzählt davon, aber ob die Erzählungen der Wahrheit entsprechen, ist zweifelhaft, ärger noch: Eva scheint selbst manchmal zu zweifeln, was wahr ist und was nicht.

Das Konzept der Inszenierung ist also konsequente Verunsicherung. Die erreicht Gehmacher, indem sie Eva auspaltet: einmal in Schauspielerin Viktoria Miknevich, die den Text als Monolog performt, brüchig, angreifbar. Und in Bühnenmusikerin Sarah Dragovic, die Miknevichs Spiel an Zither, Sampler und Bratsche mal kommentiert, mal widerspricht. Sarah Meischein hat beide in Kostüme gesteckt, die die einander physiognomisch ohnehin ähnelnden Künstlerinnen noch einmal angleichen, so dass das Publikum bald nicht mehr weiß, wer wer ist. Beziehungsweise: den Überblick verliert. So wie Eva.

Ganz unproblematisch ist das nicht. "Vater Unser" wird vom Theater zwar ab 15 Jahren empfohlen, ein Alter, in dem man konsequente Verunsicherung aushalten kann. In Heidelberg ist die Produktion aber zu Gast, weil sie für den Jugendstückepreis nominiert ist, der Jugendsparte des Heidelberger Stückemarktes. Und da fällt sie in ihrem durch und durch erwachsenen Anspruch durchaus aus dem Rahmen. "Vater Unser" jedenfalls mutet seinem Publikum einiges zu: nicht nur, dass irgendwann niemand mehr versteht, was nun eigentlich wahr ist und was nicht, sondern auch ein durchgängiges Gefühl der Bedrohung sowie eine allgemein bedrückende Stimmung. Man weiß ja: Eva ist nicht nur Opfer, sie manipuliert auch, den Therapeuten, ihre Umgebung, das Publikum. Harter Stoff.

Eine gewisse Ungewohntheit aber keine Überforderung dürfte die regionale Verortung von Lehners Roman darstellen: Dass wir uns in Österreich befinden, deutet sich nicht nur mit einzelnen sprachlichen Austriakismen an (Eva etwa findet die Situation "urpeinlich"), sondern auch mit dem Katholizismus, der das gesamte Geschehen überwölbt. "Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten", lautet das achte der zehn Gebote, und Eva bezieht das auf ihr notorisches Lügen – sie weiß, dass sie eine Sünderin ist, und darunter leidet sie. Man darf annehmen: Das ist das einzige, was sie mit Sicherheit weiß.

 

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Vater Unser 
nach dem Roman von Angela Lehner 
Regie: Hannah Gehmacher, Bühne: Florence Schreiber, Vanessa Maria Sgarra, Kostüme: Sarah Meischein, Musik: Sarah Dragovic, Dramaturgie: Annika Henrich, Johanna Vater, Künstlerische Vermittlung und Interaktion: Nora Patyk 
Mit: Viktoria Miknevich und Sarah Dragovic (Live-Musik) 
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause 

www.staatstheater-hannover.de

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