Bis es klick macht im Gehirn 

Von Dorte Lena Eilers

Heidelberg, 5. Mai 2022. Es ist, als würde ein Funke zünden. In Sekundenschnelle kippt die Welt. Erst das Gas, das unfassbar heiß durch die Venen strömt. Dann die Explosion, geräuschlos und hell. Ihn, Daniel, gibt es dann nicht mehr. Nur noch Fäuste, die in Gesichter schlagen, Füße, die alles zertreten. 

Das Knirschen, Splittern, Zerbersten fährt einem in Alexander Riemenschneiders Adaption von Juliane Pickels Jugendroman "Krummer Hund" in diesen Momenten durch Mark und Bein.
Wie ein gläsernes Monument ist auf Johanna Pfaus Bühne ein menschenhoher Schriftzug zu sehen: Ozzy, wie Ozzy Osborne – oder eben Ozzy, Daniels Hund, der ganz zu Beginn dieser Geschichte auf dem Behandlungstisch von Doktor Thomas König einen giftinduzierten Gnadentod sterben muss. Doch nicht nur er verschwindet aus Daniels Leben, nicht nur sein Vater, der ihm den Hund einst schenkte, auch die Buchstaben werden nach und nach brüchig. Denn: Sie sind aus Eis, geben Ecken und Kanten frei, die, in Rage herunter gebrochen und auf den Boden geschmettert, mit lautem Knall zerbersten.  

Woher kommt diese Wut?

Die Hamburger Autorin Juliane Pickels erzählt in ihrem bereits mehrfach preisgekrönten Romandebüt "Krummer Hund" die Geschichte des 15-jährigen "Systemsprengers" Daniel, der in selbstzerstörerischer Regelmäßigkeit haltlose Tobsuchtsanfälle erleidet. In solchen Momenten macht es einfach Klick im Gehirn. Und ab dann zählt nur noch die Gewalt. In Heidelberg ist Alexander Riemenschneiders Bühnenadaption, welche am Theater an der Parkaue Berlin entstand, nun für den Jugendstückepreis nominiert. Kein einfaches Sujet, geraten Gewaltdarstellungen auf der Bühne doch allzu schnell zu peinlicher Gymnastik. Wie also – und das fragte sich auch das Ensemble in einem kurzen Werbevideoclip auf der Homepage der Parkaue – lassen sich Daniels Ausbrüche glaubhaft performen? Wie entsteht diese Gewalt? Woher kommt seine Wut?

 

krummer hund SinjeHasheider 01Ungestüme Gang: Jessica Cuna, Claudia Korneev, Kofi Wahlen, Tenzin Chöney Kolsch, Nicolas Sidiropulos © Sinje Hasheider

Tatsächlich liefern diese Fragen die dramaturgischen Schlüsselmomente in der Inszenierung, die beim größtenteils jungen Publikum (darunter viele Schulklassen) im Alten Saal des Heidelberger Theaters für gebannte Stille sorgt. Je länger wir Daniels Erzählungen folgen, desto komplizierter wird seine Figur. Dieser 15-Jährige hat für sein Alter entschieden zu viel zu tragen, er ist ein Teenager, der Erwachsener spielen muss, während er sich doch am liebsten vor der Welt unter einem Matratzenstapel verbirgt. Da ist seine Mutter, die nach dem Abgang seines Vaters regelmäßig Männer in Unterhosen in der Küche platziert, die nur wenige Monate bleiben, dafür aber neunzigprozentigen Schwachsinn absondern. Da sind die euphorischen Phasen seiner Mutter und die depressiven, in denen sie sich bei ihrem Sohn ausheult, als wäre dieser ihr teuer bezahlter Therapeut. Und da ist Evil, Princess Evil, diese eiskalte Bitch aus Daniels Klasse, die jeden verbal zu Boden ringt, bis ihr Bruder nach einer Party von einem Auto überfahren wird. Hat etwa Doktor König, der neue Lover von Daniels Mutter, etwas damit zu tun?

Schnoddrige Erkundung der Extreme

Alexander Riemenschneider hat sein fünfköpfiges Ensemble zu einer ungestümen Spieler:innen-Gang zusammengeschweißt. Chorisch oder in wechselnden Rollen bewegen sie sich durch den Text wie durch ein großes Abenteuer, als wüssten sie selbst nicht, wie die ganze Chose endet. Besonders Kofi Wahlen, der immer wieder in die Rolle von Daniels bestem Freund Edgar schlüpft, sendet derart charismatische Energien über die Rampe, dass er sogleich mit den Jungs aus der ersten Reihe connected. Mission completed, denn auf diese Weise gebannt, folgt das Publikum jeder Nuance, nur selten verrutscht in emotionaleren Passagen mal der Ton. Sobald sich die Gang performativ in Rage gespielt hat, sich gegenseitig neckt, knufft, bedrängt, ankeift, anrempelt, einengt, bis es Klick macht, gelingt, was sonst auf der Bühne schwer darstellbar ist: der emotionale Overkill, die körperliche Explosion.     

Pickels Text ist eine einfühlsame, zärtliche, zugleich witzige und schnoddrige Erkundung von emotionalen Extremzuständen, ohne letztendlich deren Entstehung bis in die kleinsten psychologischen Verästelungen erklären zu wollen. Vielmehr geht es überhaupt erst einmal um den Versuch, das eigene Kopfchaos zu beschreiben: "Frag mich doch mal!", schreit Daniel am Ende seine Mutter an. "Frag mich doch mal, was mit mir da passiert!". Antworten hat selbst er keine. Aber ein Anfang ist gemacht. 

 

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Krummer Hund  
nach dem Roman von Juliane Pickel  
Fassung von Liat Fass­berg und Alexander Riemen­schneider 
Regie: Alexander Riemenschneider Bühne: Johanna Pfau Kostüm: Lili Wanner Musik: Tobias Vethake Dramaturgie: Allex. (Liat) Fassberg Vermittlung: Zaida Horstmann
Mit: Jessica Cuna, Claudia Korneev, Tenzin Chöney Kolsch, Nicolas Sidiropulos und Kofi Wahlen
Uraufführung: 23. Oktober 2021
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause 

www.parkaue.de

 

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