Abgeklärt wird man früh genug

Von Falk Schreiber

Heidelberg, 2. Mai 2022. Das Herz will bluten. Klar: Wann, wenn nicht im Teenangeralter, darf man sich im Aktivismus verausgaben, darf man sich in das Bewusstsein stürzen, dass sich die Welt irgendwie verbessern ließe? Abgeklärt wird man schon früh genug. Bloß: Wenn man das mit dem Weltverbesserungspathos zu ernst nimmt, dann gerät man schnell auf die schiefe Bahn. Dann wird man zu jemandem wie Jana aus Kassel, die 2020 auf einer "Querdenken"-Demonstration in Hannover die Bühne enterte und mit tränenerstickter Stimme jammerte, dass sie sich fühle wie Sophie Scholl. Weil sie nämlich ebenso wie die antifaschistische Widerstandskämpferin in einer Diktatur leben würde. In einer Corona-Diktatur.

Jana aus Kassel ist ein wichtiger Bezugspunkt in Pascal Wieandts Stückentwicklung "Aufruf an alle! 100 Jahre Sophie Scholl", mit dem das Theater Erlangen beim Heidelberger Stückemarkt für den Jugendstückepreis nominiert ist – als Beispiel dafür, wie fatal Aktivismus in die Hose gehen kann. Über 80 Minuten spielt Nina Lilith Völsch die Stadien jugendlichen Widerstandes durch: Dagegensein, Idealismus, Lächerlichmachen. An einer Stelle wird beschrieben, wie die Protagonistin auf einer Konferenz Brian Eno angesprochen habe, was sich denn gegen die Ungerechtigkeiten der Welt unternehmen ließe, und Eno habe ihr den ziemlich unbefriedigenden Ratschlag "Follow your heart!" gegeben. Sowas passiert. Es ernüchtert nur ziemlich.

SophieScholl Nina Lilith Vilsch FotoJQuast 241 kleinZwischen echtem Widerstand und Weltverbesserungspathos – "Aufruf an alle! 100 Jahre Sophie Scholl" in der Regie von Pascal Wieandt mit Nina Lilith Völsch. © J. Quast

Völsch bringt dieses Wechselbad zwischen echtem Aktivismus und echter Demütigung im Stil einer aus dem Ruder laufenden Lecture Performance auf die Bühne. Schlagworte werden in den Raum gerufen, irgendwann auch als Twitter-Hashtags formuliert und auf Schildern durch den Raum getragen: #AllArtIsPolitcal, #FuckLobbyism, #Mietenwahnsinn (Ausstattung: Kathrin Hauer). Und kontrastiert wird das immer wieder mit biografischen Daten einerseits aus dem Leben Völschs, andererseits aus dem Leben der Sophie Scholl. Was auch schon wieder problematisch ist: Natürlich ist es eine Katastrophe, wenn einer schlecht verdienenden Schauspielerin die Miete um 200 Prozent erhöht wird, aber vergleichen lässt es sich nicht mit dem Schicksal einer Widerstandskämpferin, die 1943 in der Haftanstalt München-Stadelheim von den Nazis ermordet wird. Die große Qualität von "Aufruf an alle!" ist: Das Stück weiß um dieses Problem. Und es schafft es, die Komplexität des Widerstandsthemas zum eigentlichen Kern des Abends zu machen.

Ein Abend, der es einem nicht leicht macht

Woran die Darstellerin sicher einen großen Anteil hat. Völsch wirft sich mit Haut und Haaren in den Stoff, performt die Gemengelage mit sichtbarer Verwirrung, schafft grundsympathisch Nähe zu den Zuschauer:innen und traut sich auch immer wieder, kolossal zu nerven. Vielleicht sorgt dieses Spiel mit Nähe und Distanz aber auch dafür, dass es einem der Abend nicht leicht macht. Im Programm des Theaters Erlangen ist "Aufruf an alle!" ab 14 Jahren empfohlen, aber angesichts der Tatsache, dass sich mit Völsch eine Mitzwanzigerin den Stoff konsequent zu eigen macht, dürfte sich ein jüngeres Publikum vom Spiel mit Bedeutungsebenen ausgeschlossen fühlen.

SophieScholl Nina Lilith Vilsch FotoJQuast 127 kleinWann wenn nicht jetzt – Nina Lilith Völsch performt in "Aufruf an alle!" mit Haut und Haaren. © J. Quast

Dennoch, als hochpolitisches Jugendtheater funktioniert die Arbeit. Zumal „Aufruf an alle!“ nur durch Zufall nach Heidelberg kam: Eigentlich war Konradin Kunzes "C0N5P1R4.CY (Keine Zufälle)" vom Bremer MOKS für den Jugenstückepreis nominiert, aber die Corona-Pandemie verhinderte das Gastspiel aus Bremen, weswegen Erlangen nachnominiert wurde. Und aus dieser unverhofften Einladung das Beste machte, mit Engagement und Mut zum Scheitern. Wann, wenn nicht im Teenageralter, darf man sowas schon?

Zurück zur Übersicht

 

Aufruf an alle! 100 Jahre Sophie Scholl
von Pascal Wieandt
Regie: Pascal Wieandt, Bühne, Kostüme und Video: Kathrin Hauer, Dramaturgie: Udo Eidinger
Mit: Nina Lilith Völsch
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
Premiere: 10. Juni 2021

www.theater-erlangen.de

 

Kommentar schreiben

Sicherheitscode
Aktualisieren