Des Kaisers neue Kleider

von Falk Schreiber

Heidelberg, 5. Mai 2022. Die Kunst war auch schonmal in besserem Zustand. Thomas Dreissigacker hat für Rafael Sanchez’ Kölner Inszenierung von Thomas Melles "Ode" eine Sperrholzbühne in den Heidelberger Marguerre-Saal gestellt, beleuchtet von Neonlicht, der Vorhang fleckig und zerrissen. Ein Vernissagenpublikum hat sich hier eingefunden, um das jüngste Werk der Starkünstlerin Fatzer (Yvon Jansen) zu diskutieren: ein großes Nichts namens "Ode an die alten Täter". Eine soziale Skulptur, aber: Darf man das? Die Täter feiern? Als rauskommt, dass die Künstlerin das Werk eigentlich anders betitelt hatte, schlägt der politisch-korrekte Shitstorm zu, auch wenn man den ursprünglichen Titel gar nicht zu hören bekommt – der ist so schlimm, man darf ihn nicht einmal aussprechen. Fatzer verliert ihre Professur und bringt sich daraufhin um.

Melle hat mit "Ode" auf den ersten Blick eine Kunstbetriebssatire mit political-correctness-kritischer Schlagseite geschrieben, und weil Sanchez’ Kölner Inszenierung für den Nachspielpreis beim Heidelberger Stückemarkt nominiert ist (die Uraufführung fand 2019 am Deutschen Theater Berlin statt), ist der Abend selbst hocherfolgreicher Teil des Betriebs. "Bäm, Nachspielpreis!", freut sich Schauspieler Benjamin Höppner an einer Stelle, das ist lustig, es macht die Aufführung aber auch angreifbar. Davon abgesehen ist die erste Stunde "Ode" allerdings auch eine wohlfeile "Des Kaisers neue Kleider"-Variante: Da machen sich Theaterleute lustig über das, was sie für die Kunstszene halten, dekadent, oberflächlich und reich.

Ode KrafftAngererKunst oder Nicht.Kunst, das ist hier die Frage.... © Krafft Angerer

Aber keine Sorge: Im zweiten Akt bekommt die Darstellende Kunst auch noch ihr Fett weg. Regisseur Orlando (Höppner) nämlich möchte Fatzers Schicksal reenacten und wird daraufhin als alter, weißer Mann gecancelt. Böse, böse, die Cancel Culture, und während die Kulturwelt noch diskutiert, wer wann was spielen darf, machen sich die echten Nazis bereit zur Machtübernahme.

Kritisch herumperformen

Man kann das Stück also als überspitzte Darstellung einer (irgendwie linken) Kunstblase lesen, die sich auf Nebenschauplätzen aufreibt und dabei die wahre Gefahr übersieht (und über weite Strecken stützt Sanchez’ Inszenierung diese Lesart auch). Auf der anderen Seite ist das, was der alte, weiße Mann dann gnädigerweise doch noch auf die Bühne bringt, auch nicht geeignet, die Nazis in ihre Schranken zu weisen, ästhetisch gibt es tatsächlich rein gar nichts her. Ein "Ja, unter Castorf und Peymann mögen Theater unangenehme Ort gewesen sein, aber wenigstens saß die AfD damals nicht im Parlament" ist eine zu einfache Antwort auf das Problem, das Melles Vorlage anspricht, und die Inszenierung ist auch nicht so naiv, sich auf diese Antwort zu beschränken.

Nur: Eine andere Antwort weiß auch dieses kluge, reflektierte Polittheater nicht. Im dritten Akt sitzen die Nazis (die hier "Die Wehr" heißen und trotz aller Brutalität nicht uninteressant daherkommen) an den Schalthebeln, und sie lassen der Kunst ihren Raum. "Die Kunst ist frei" heißt es, und Nicola Gründel darf als Kunstideal "Präzisa" tatsächlich ein bisschen kritisch rumperformen. Was die "Wehr" zwar ärgert, ansonsten aber nicht weiter interessiert. Also, was denn nun?

Kunsten bis der Arzt kommt

In Berlin endet "Ode" an dieser Stelle, für die Kölner Inszenierung hat Melle noch einen vierten Akt geschrieben, "Delirium", und der beschreibt das absolute, kunstlose Chaos. Eine Ausstattung existiert nicht mehr, der Blick geht bis auf die Hinterbühne, jede:r kunstet, was sie:er will, es wird ein bisschen gerappt, getanzt, Blödsinn gemacht, es gibt noch einen wirklich lustigen Witz auf Kosten des Heidelberger Intendanten ("Ach, Sie sind gar nicht Holger Schultze?", fragt Jansen mitten in der Fellatio), dann ist Schluss, brutales, fieses Zombietum. "Hunger“, stöhnt Höppner, während er nackt und blutig durch den Saal kriecht, das ist, was bleibt. "Bäm, Nachspielpreis!"

 

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Ode 
von Thomas Melle 
Regie: Rafael Sanchez, Bühne: Thomas Dreissigacker, Kostüme: Maria Roers, Musik: Cornelius Borgolte, Video:Nazgol Emami, Licht: Michael Frank, Dramaturgie: Sibylle Dudek 
Mit: Paul Basonga, Nikolaus Benda, Nicola Gründel, Benjamin Höppner, Yvon Jansen, Rebecca Lindauer, Kei Muramoto 
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause 

www.schauspiel.koeln
 
Hier ein Gespräch mit dem Regisseur Rafael Sanchez über seine Inszenierung.

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