Ode an die Unvernunft

Von Falk Schreiber

Heidelberg, 5. Mai 2022. Wenn man sich Friedrich Wilhelm Murnaus 100 Jahre alten Horrorfilm "Nosferatu – eine Symphonie des Grauens" anschaut, dann übersieht man bei aller Begeisterung über die expressionistische Kraft des Filmklassikers schnell, dass eine der Figuren einen recht heutigen Beruf hat: Thomas Hutter, der den titelgebenden Vampir überhaupt erst in die westliche Welt holt, ist Immobilienmakler. Und auch in Sivan Ben Yishais "Die tonight, live forever oder Das Prinzip Nosferatu", das in Michael Königsteins Inszenierung vom Staatstheater Nürnberg für den Nachspielpreis beim Heidelberger Stückemarkt nominiert ist, taucht ein Makler auf.

Sascha Tuxhorn spielt ihn, einen schwulen Highprofessional, dessen Aufgabe es ist, überteuerte Luxuswohnungen in der Provinz an extrem reiche Familienväter zu verkaufen. Dieser Makler sitzt also im Hotelzimmer in Rennes, ist mangels schwuler Szene untervögelt und außerdem gestresst, weil seine Jobperformance nachlässt und in seiner Welt da schnell die Kündigung droht. Und über eine Datingapp nimmt er Kontakt auf zur anderen Seite, zum Dunklen, zum Vampirischen.

Das Motiv Blut

Sivan Ben Yishai hat drei Biografien zusammengestellt, die alle auf der Kippe stehen. Die junge Frau (Anna Klimovitskaya), die an den Erwartungen ihrer Umwelt zerbricht und sich an eine tödliche Krankheit klammert, Krebs, der als einziger keine Forderungen an sie stellt. Und der Mann (Yascha Finn Nolting), der auf dem Weg von der Arbeit von zwei dämonischen Motorradfahrern eingesammelt wird, die ihm Organe entnehmen, für pauschal 100 Euro. Wesen mit einer Nähe zum Vampirischen sind das allesamt, verführerisch, gefährlich, selbstzerstörerisch. Am deutlichsten wird das in einer Videoeinspielung, in der der Makler von seiner Jugend in den Achtzigern erzählt, als AIDS eine Bedrohung war und gleichzeitig eine Verheißung, die mit ungeschütztem Sex zu tun hatte. Das Motiv Blut führt von dort direkt zu Nosferatu.

DieTonight 1 Staatstheater Nuernberg Schauspiel 2021 22 c Konrad Fersterer Handlungsort: Ein zerstörtes Kino – Bühne: Victoria Philine Giehl © Konrad Fersterer

Regisseur Königstein macht nicht den Fehler, diese mehr über Assoziationen als über Handlung funktionierenden Geschichten zusammenzufügen. Die drei Biografien berühren sich eher zufällig, etwa wenn der Organverkäufer den Tumor der jungen Frau zu aktivieren scheint, ansonsten laufen sie nebeneinander her. Im Gegensatz zu Marie Bues’ und Nicki Lisztas sehr stilisierter Uraufführungsinszenierung 2018 in Lübeck gibt es hier allerdings eine ästhetische Klammer durch Victoria Philine Giehls Ausstattung: Handlungsort ist ein zerstörtes Kino. Müll liegt herum, der Boden ist mit ascheähnlichem Granulat bestreut. Aber es gibt noch ein paar Sessel, auf denen die Protagonist:innen lümmeln. Und auf der fleckigen Leinwand läuft tatsächlich ein Film: "Nosferatu – eine Symphonie des Grauens", klar.

"Du wirst es rocken!"

Königstein verortet die Handlung also in einem ganz konkreten Kunstkontext, das macht den Abend rund, beraubt ihn freilich seiner politischen Schärfe, die das Programmheft mit Zitaten von unter anderem Thomas Macho, Karl Marx und Byung-Chul Han aufzubauen versucht. Tatsächlich ist das Gezeigte aber nicht in erster Linie eine Kritik an einem Wirtschaftssystem, das sich nur vampiristisch durch das Aussaugen des Gegenübers am Leben hält, es ist ein optisch nicht reizloser Alptraum, in den sich drei Menschen fallen lassen, denen es aus unterschiedlichen Gründen nicht gut geht. Und wenn man so will, dann hat Königstein hier eine Ode an die Krankheit inszeniert, an die Unvernunft und an die Selbstaufgabe. Und nicht zuletzt an die Kunst und einen Kinoklassiker, der die Protagonist:innen aus der Langeweile der Selbstoptimierung rettet.

Wenn die drei in den letzten Minuten des Abends als nackte und gehäutete Wesen über die Bühne wanken, dann ist das jedenfalls weitaus reizvoller als die Selbstoptimierungsfloskeln, mit denen sie sich zuvor für den Alltagskampf gestählt haben. "Du wirst es schaffen! Es rocken! Es bringen!" keuchte die junge Frau mit flackerndem Blick einst, jetzt aber hat sie ihren Frieden gefunden, als Figur aus einem expressionistischen Horrorfilm. Schön.

 

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Die tonight, live forever oder Das Prinzip Nosferatu 
von Sivan Ben Yishai 
Regie: Michael Königstein, Bühne und Kostüme: Victoria Philine Giehl, Dramaturgie: Klaus Missbach, Lichtdesign: Günther Schweikart 
Mit: Anna Klimovitskaya, Yascha Finn Nolting, Sascha Tuxhorn 
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause 

www.staatstheater-nuernberg.de
 
 

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