Feuerfest sein oder brennen?

von Dorte Lena Eilers

Heidelberg, 10. Mai 2022. Als die Schauspielerinnen zur ersten Lesung des internationalen Autor:innen-Wettbewerbs ihre Plätze einnehmen, geht ein Raunen durchs Publikum. Sieben Frauen! So etwas sieht man im Theater, es sei denn, es wird zufälligerweise gerade "Bernarda Albas Haus" gegeben, eher selten. 

Es ist ein Eröffnungsbild, das mitten hineinführt in das Gastlandprogramm des diesjährigen Stückemarktes. Denn der von José Manuel Mora und Carlota Ferrer kuratierte Jahrgang ist ein dezidiert feministischer. Nicht nur Gastspiele wie die Shakespeare-Adaption Othello von Fernando Epelde in der Regie von Marta Pazos arbeiten sich an feministischen Themen ab, auch der internationale Autor:innen-Wettbewerb ist mit drei Dramatikerinnen bei insgesamt vier Nominierungen fest in weiblicher Hand. 

Ein Jahrhundert nach Lorca

In ihrem Stück "Mein Italienfilm", das den Lesemarathon am vergangenen Samstag eröffnete, habe sie, erklärt Rocío Bello, die Geschichten der Frauen in ihrer Familie verarbeiten wollen. Sieben an der Zahl sind es, aus drei Generationen, die sich um die Großmutter beziehungsweise Mutter Anna gruppieren, zweifellos die Matriarchin in der Familie, stark, eigensinnig, mit "Kronjuwelen" unter dem Kopfkissen und eine Pistole im blauen Haus. Durch diese offensichtliche Referenz an "Bernarda Albas Haus" (aus dem auch ein Eingangszitat entnommen ist) kommt man nicht umhin, beide Stücke miteinander zu vergleichen.

f Roco BelloRocío Bello, die mit dem Stück "Mein Italienfilm" in Heidelberg antrat © Theater Heidelberg

Das ernüchternde Fazit: Nahezu neunzig Jahre nach Entstehung von Federico García Lorcas Text ringen die Frauen noch immer mit ihren Rollen in der Gesellschaft. Ökonomisch gesehen sind Rocío Bellos Figuren natürlich emanzipierter, doch kommt ihnen auch heute noch die Aufgabe zu, die Familie auf Teufel komm raus zusammenzuhalten. Rollenerwartungen, die sie tragischerweise so verinnerlicht haben, dass sie sie auch untereinander permanent einfordern. Einzig in einer Traumsequenz wagt Anna ein Breakout. 

Schräge Bösartigkeit

An Weihnachten, einem Tag, an dem die Familie grundsätzlich Huhn erwartet, serviert sie Hummer, genau genommen: einen Hummer, ganz allein für sich. "Und ich setze mich an den Tisch zu meinem Mann, zu meinen vier Schwiegersöhnen, meinen acht Enkelkindern, mitten zwischen Hühner, Hähne und meine vier Töchter. Ich lege den Hummer genau vor mich und nehme die Zange, die ich rechts von meinem Teller habe, während alle mich angucken. Ich trenne eine Schere ab und hole das Fleisch heraus. Ich esse es. Ich wiederhole das Gleiche mit der zweiten Schere. Danach hole ich den Körper aus der Schale, schneide ihn mit einem Fleischmesser in drei Teile und esse sie auf. Allen anderen 17 serviere ich dunkles Schokoladeneis."

Rocío Bellos "Mein Italienfilm" erinnert in seiner Konstellation, seiner schrägen Bösartigkeit, aber auch in seiner Melancholie angesichts geplatzter Träume an Pedro Almodóvar. Es wäre sicherlich ein großer Spaß, dieses Frauenstück, dessen feinen Wortwitz Charlotte Roos ins Deutsche übertragen hat, auf einer großen Bühne zu sehen. 

"Die Hunde sind auch allein und leben." Dieses Zitat aus "Bernarda Albas Haus" ist Rocío Bellos Text vorangestellt. Passen könnte es aber auch zu einem anderen Stück, welches die Preisjury, die in diesem Jahr aus der Regisseurin Marie Bues, dem Kritiker Björn Hayer, der Dramatikerin Ulrike Syha, der Intendantin des Hessischen Landestheaters Marburg Carola Unser sowie dem Leitenden Heidelberger Schauspieldramaturgen Jürgen Popig bestand, derart überzeugte, dass sie ihm den internationalen Autor:innen-Preis zusprachen: María Velascos von Franziska Muche sprachsensibel ins Deutsche übertragene "Ich möchte die Menschen ausroden von der Erde".  

Rasende Befreiungsrede

Velasco erzählt darin sehr zärtlich und ungeschützt aus dem Leben einer jungen Frau in Spanien, angefangen mit ihrer Jugend ("In Soria soll es Orte geben, menschenleerer als Sibirien. Noch menschenleerer sind manche Orte meiner Kindheit"), als sie als Teenager bei einem Grillausflug am Harz eines Baumes festgeklebt war, bis zu der Verteidigung ihrer Doktorarbeit an einer spanischen Universität. Überall begegnen ihr Männer, die nicht unbedingt ihr Bestes wollen, zumal in der Phase ihrer Doktorarbeit, als sie sich ihren Unterhalt mit Prostitution verdienen muss. Doch das Patriarchat, es steckt auch unter den Talaren: "Die Professur war euer Garant / für Frischfleisch: / Bachelorarbeit, Körbchengröße A; / Masterarbeit, Körbchengröße B; / Doktorarbeit, Körbchengröße C. / Manche Frauen haben sich fröhlich aufgedrängt / und wurden gern bevorzugt behandelt. / Geben Sie es zu, geben Sie zu, / Sie haben unten im Schubfach mit den Handtüchern die Erstausgabe von Lolita / aus den Fünfzigern / und sie ist abgegriffener / als jede U-Bahn-Haltestange … Ich möchte mich lossagen / von einer ganzen Erziehung. / Vom cartesianischen Subjekt und dieser Methode, / auf der Sie Ihre gesellschaftliche Macht aufbauen, sage ich mich los … lange Zeit / habe ich den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen: / Jetzt rückt der Wald vor." Eine große, rasende Befreiungsrede!

f Xavier UrizDer Tod trinkt mit: Xavier Uriz, der sein Stück "Thanatologie" in Heidelberg vorstellte © Theater Heidelberg

An den Rand des moralisch Vorstellbaren wiederum führt uns Xavier Uriz in seinem Stück "Thanatologie". Er entwirft darin ein Institut für Psychothanatologie, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, Menschen in den Suizid zu begleiten, indes nicht jene, die depressiv oder anderweitig vorgeprägt sind, sondern nur Menschen, die im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, ja, die mit ihrem Leben eigentlich recht zufrieden sind. Mittels dieser dystopischen oder utopischen Geschichte – schon allein diese Kategorisierung fällt einem schwer – verhandelt Uriz Themen wie Sterbehilfe, Glück, individuelle Freiheit sowie die Erschöpfung des Menschen im Kapitalismus. Man merkt, das hier ein philosophischer Kopf am Werke ist.

Gedanklicher Schleudergang

Uriz ist Philosophie-Professor, dessen Stück, wie er im anschließenden Publikumsgespräch erzählt, in direkter Fortführung seiner Diskussionen mit seinen Schüler:innen entstanden sei. Laut Platon, so Uriz, sei die Philosophie immer schon eine Vorbereitung auf den Tod gewesen, weshalb der philosophisch eingestellte Mensch am wenigsten Schwierigkeiten damit habe, sich mit dem eigenen Sterben zu befassen. "Thanatologie" ist in diesem Sinne das ethisch herausforderndste Stück dieser Viererauswahl, bei dem es im Verlauf der Geschichte, die Thomas Sauerteig aus dem Katalanischen übersetzt hat, zunehmend komplizierter wird, sich zu Themen wie frei gewählter Suizid oder Sterbehilfe zu positionieren. Ein Glücksmoment, wenn eine solche Unschärfe im Theater gelingt. 

f Ruth Rubio 2Ruth Rubio, die mit ihrem Stück "Die Feuerfesten" nach Heidelberg kam © Theater Heidelberg

Nach diesem gedanklichen Schleudergang katapultieren uns die Schauspieler:innen Sandra Bezler, Jonah Moritz Quast, Christina Rubruck und Esra Schreier mit ihrer temporeichen Lesung in der Einrichung von Jürgen Popig in das letzte Stücke der Viererauswahl: Ruth Rubios "Die Feuerfesten (Universum 29)", aus dem Spanischen übersetzt von Miriam Denger. Erzählt wird die Geschichte einer Kleinfamilie, in der es der Mutter nahezu unmöglich erscheint, ihre nunmehr erwachsenen Kinder gehen zu lassen.

Klaustrophobische Familiensituation

Bruder Mai, 23, hat Strategien entwickelt, für immer als Kleinkind durchzugehen, während Tochter Juana, 25, sich auf einer Schwelle befindet. "Die Metapher des Brennen", erklärt Rubio im Publikumsgespräch, "steht für die Pubertät, also den Übergang ins Erwachsenenleben." Will man feuerfest sein? Oder brennen? Diese Frage erörtert Rubio in ihrem Stück mit fein gesponnener Psychologie, während sie gleichzeitig mit schnellen Dialogen viele Anlässe für Situationskomik liefert.

Verschnitten wird die klaustrophobische Familienkonstellation zudem mit Berichten über ein berühmtes Ratten-Experiment des US-Forschers John B. Calhoun, der damit Erkenntnisse über soziale Auswirkungen von Dichtestress erlangen wollte. Wird eine Rattenbevölkerung aufgrund ihres hohen Ernährungstandes zu groß, beginnen die Weibchen, ihre Kinder zu fressen. Ganz klar also: Dann lieber brennen! Ein Satz, der auch für das Theater gilt.

  

Mein Italienfilm 
von Rocío Bello
aus dem Spanischen von Charlotte Roos
Mit: Nicole Averkamp, Johanna Dähler, Marie Dziomber, Katharina Ley, Jennifer Münch, Sandra Bezler und Charis Nass 
Einrichtung: Georg Zahn und Michael Letmathe

Ich will die Menschen ausroden von der Erde 
von María Velasco 
aus dem Spanischen von Franziska Muche 
Mit: Hans Fleischmann, Katharina Ley, Hendrik Richter, Christina Rubruck und Esra Schreier 
Einrichtung: Goldie Röll und Ida Feldmann 

Thanatologie
von Xavier Uriz 
aus dem Katalanischen von Thomas Sauerteig 
Mit Sophie Arbeiter, Nicole Averkamp, Massoud Baygan und Daniel Friedl 
Einrichtung: Theresa Leopold 

Die Feuerfesten (Universum 29)
von Ruth Rubio 
aus dem Spanischen von Miriam Denger 
Mit: Sandra Bezler, Jonah Moritz Quast, Christina Rubruck und Esra Schreier 
Einrichtung: Jürgen Popig

 

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