Der Wettbewerbsjahrgang 2022 +++ Sieger:innen +++ Stücke +++ Preise
Zeit für Zärtlichkeit
Von Falk Schreiber
Heidelberg, 8. Mai 2022. Leo Meier, ausgebildeter Schauspieler und mittlerweile Dramatiker, erinnerte sich an sein Studium. "Ich durfte auf der Schauspielschule nie bei den Hörspielen mitmachen, weil ich so schlecht artikuliere." Gelächter im Alten Saal des Theaters Heidelberg. "Jetzt bin ich vielleicht doch dahin gekommen." Zweifellos: Meier erhielt beim Heidelberger Stückemarkt für sein Stück "zwei herren von real madrid" den SWR2 Hörspielpreis, dotiert mit 5000 Euro und verbunden mit der Produktion eines Hörspiels.
Preiswürdige Utopie
Wobei sich SWR-Chefdramaturg Manfred Hess nicht unbedingt von Meiers entwaffnender Ehrlichkeit in Bezug auf seine Artikulationsfähigkeiten überzeugt zeigte, sondern vor allem von einer ungewohnten Schreibhaltung, die sich vor allem mit dem Begriff "Zärtlichkeit" charakterisieren lässt. "ich bitte alle beteiligten, zärtlich im umgang mit diesem stück zu sein", stellt Meier zwei herren von real madrid voran, und, ja, vielleicht ist das tatsächlich eine preiswürdige Utopie: ein wenig zärtlicher miteinander umzugehen.
"zwei herren von real madrid" erwies sich allerdings auch als Stück, das sich mit viel Charme in die Herzen der Zuhörer:innen einschlich – dass die Liebesgeschichte zwischen zwei Fußballprofis auch den mit 2500 Euro dotierten Publikumspreis abräumen würde, war fast vorhersehbar. Darin liegt freilich ein Risiko, das den 39. Heidelberger Stückemarkt prägte: Der freundliche Humor von "zwei herren von real madrid" lässt sich auch als Ironie lesen, und ironisch war an diesem Jahrgang vieles.
Allgemeine Ironietendenz
Bei Meier kippt diese Ironie in die Zärtlichkeit, das kann aber auch anderes nach sich ziehen. Zum Beispiel die gnadenlose Bösartigkeit, mit der Rafael Sanchez am Schauspiel Köln Thomas Melles "Ode" anging, inklusive Heidelberg-spezifischer Gags und der gesammelten Bühnenpower, die ein A-Klasse-Theater mitzubringen in der Lage ist. Und für die "Ode" vollkommen verdient den mit einer Gastspieleinladung zu den Autor:innentagen 2023 am Deutschen Theater Berlin verknüpften Nachspielpreis nach Köln holte. Spannend auf jeden Fall: Am Deutschen Theater wurde "Ode" 2019 uraufgeführt, die beiden Arbeiten lassen sich dann vergleichen.
Die allgemeine Ironietendenz des Festivals wurde freilich von den für den Jugenstückepreis nominierten Arbeiten konterkariert. Harsch ging es da zu, schonungslos, und ästhetisch durch die Bank eigenständig. Die Laudatio war zudem die charmanteste des Abends, vorgetragen von drei Jugendlichen, die zunächst im Bewusstsein, hier eine Floskel zu präsentieren, bekannten, dass ihnen die Entscheidung nicht leichtgefallen sei, aber sie müssten ihr Schwertun mit dem Prämieren jetzt trotzdem klarstellen – reizend. Woraufhin sie den mit 6000 Euro dotierten Preis ans Schauspiel, Hannover vergaben, an Hanna Gehmachers angemessen drastische Uraufführungsinszenierung von Angela Lehners Vater unser. Dass Darstellerin Viktoria Miknevich zur Preisübergabe einen wahnsinnig niedlichen Hund auf die Bühne schleppte, konterkarierte allerdings die Schwere des Stücks ein wenig. Psychiatrie, Missbrauch, Amoklauf, Katholizismus, schon schlimm, das alles, aber, hey: Es gibt niedliche Hunde! Alles wird gut! Womit man dann zum letzten Mal die Ausfahrt in die Ironie genommen hätte.
Empowermentparabeln
Hart und schonungslos ist nämlich auch Ivana Sokolas Stück "Pirsch“, das von einem sexuellen Übergriff auf einer Kirmes erzählt, und von der Selbstermächtigung des gar nicht so wehrlosen Opfers. Sokola erhielt den mit 10 000 Euro dotierten deutschsprachigen Autor:innenpreis, innerhalb einer starken Konkurrenz, die die beiden Jurorinnen Marie Bues und Carola Unser zu einem ungewohnten Bekenntnis motivierte: "Hätten wir uns nach Dringlichkeit und Relevanz entschieden, dann hätte ,Wald‘ von Miriam V. Lesch den Preis bekommen." Stattdessen sei aber die sprachliche Brillianz von "Pirsch" ausschlaggebend gewesen. Wobei durch diesen Einwurf wahrscheinlich sowohl Lesch als auch Sokola ein wenig unglücklich aus dem Wettbewerb gehen dürften. Um die Verwirrung komplett zu machen: Der Autor hätte wahrscheinlich am ehesten "Judith Shakespeare: Rape and Revenge" von Paula Thielecke prämiert, was allerdings nur ein Hinweis darauf ist, wie viele gute, relevante, virtuose Texte dieses Jahr zur Auswahl standen.
Und auch der mit 5000 Euro internationale Autor:innenpreis im Rahmen des diesjährigen Gastland-Spanien-Programms ging an eine eher drastische Geschichte: an die Empowermentparabel "Talaré a los hombres de sobre la faz de la tierra" ("Ich will die Menschen ausroden von der Erde“) von María Velasco. "Ein ehrlicher, ein offener, ein ungeschützter Text", lobte Jurorin Ulrike Syha. Sympathisch: Velasco widmete den Preis ihrer Übersetzerin Franziska Muche und lenkte damit den Fokus auf eine für internationales Theater unverzichtbare und doch häufig übersehene Profession.
Raum zurückerobern
Grundsätzlich kann die 39. Ausgabe des Heidelberger Stückemarkts also als Erfolg angesehen werden. Stolz betonte Intendant Holger Schultze, dass mit rund 7650 Besucher:innen mehr Publikum verzeichnet wurde als vor Corona – und die mehrfache Betonung, dass man das erste große Festival nach der Pandemie gestemmt habe, überspielte ein wenig, dass die Pandemie noch ganz und gar nicht vorbei ist, und dass beispielsweise das für den Jugendstückepreis nominierte "CON5P1R4.CY" vom Bremer MOKS wegen eines Coronafalls nicht anreisen konnte. Aber Schultzes Begeisterung war natürlich nachvollziehbar: "Wir sind gerade dabei, uns den demokratischen Raum für das Festival zurückzuerobern, das hat das Festival gezeigt!", betonte der Theaterleiter.
Und, ja, gerade angesichts der vielfach behaupteten Zurückhaltung des Publikums darf man Erfolg am Ticketschalter tatsächlich nicht zu gering schätzen. Und auch andere Analysen geben Anlass zur Begeisterung: "Noch nie gab es einen Stückemarkt, in dem Inklusion und Diversität so klar thematisiert wurden wie dieses Jahr!" Stimmt – nicht zuletzt im Gastspielprogramm, mit Stücken wie Susanne Frielings Baby don’t hurt me vom Theaterhaus Jena, Thirza Brunckens Blick auf Sarah Kilters White Passing vom Schauspiel Leipzig oder Christoph Fricks Inszenierung von Gesine Schmidts Recherche Who Cares – Können Roboter pflegen? von den Münchner Kammerspielen.
Heterogen, ästhetisch vielschichtig
Echte Enttäuschungen gab es dieses Jahr keine, und eine Nummer-sicher-Einladung wie Christopher Rüpings Das neue Leben vom Schauspielhaus Bochum, das mehr oder weniger direkt aus Heidelberg zum Berliner Theatertreffen weiterreiste, blieb die Ausnahme. Vielleicht fehlten ein paar Widerhaken im Programm? Störfaktoren, die sich nicht begeistert als lohnender Theaterabend wegschauen ließen? Rieke Süßkows Inszenierung von Anna Neatas Oxytocin Baby am Schauspielhaus Wien hätte da das Zeug dazu gehabt, aber sonst? Egal. Ein Festival darf auch einfach mal rundum gelungen sein, heterogen, ästhetisch vielschichtig. Freundlich, wenn man so will. Oder auch: zärtlich. Mehr Zärtlichkeit, bitte.
Autor:innen und Stücke
>Programm
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Maria Magda
von Svenja Viola Bungarten
Regie: Brit Bartkowiak
Alter Saal
Gastspiel Theater Münster
von Felicia Zeller
Regie: Max Claessen
Uraufführung
anschl. Publikumsgespräch
Sprechzimmer
Gastspiel HAU Berlin / Onlinetheater.live
von Kathi Kraft, Toni Minge, Luzia Oppermann + Caspar Weimann
Betreutes Spielen mit Onlinetheater.live
Eintritt frei
Zwinger 3
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb I
13:30 Uhr zwei herren von real madrid von Leo Meier
14:30 Uhr Wald von Miriam V. Lesch
16:00 Uhr Judith Shakespeare - Rape and Revenge von Paula Thielecke
Die Lesungen werden live www.theaterheidelberg.de gestreamt. Die Aufzeichungen sind anschließend auf www.theaterheidelberg.de abrufbar.
Zwinger 1
Gastspiel Münchner Kammerspiele / Otto Falckenberg Schule
von Ayşe Güvendiren
Regie: Ayşe Güvendiren
Uraufführung
anschl. Publikumsgespräch
Marguerre-Saal
Gastspiel Schauspielhaus Bochum
frei nach Dante Alighieri, Meat Loaf und Britney Spears
Regie: Christopher Rüping
Uraufführung
anschl. Publikumsgespräch
Foyer
Podium:
Exil und Empowerment
2017 war die Ukraine Gastland beim Heidelberger Stückemarkt. Wie ist die aktuelle Situation für Theaterschaffende? Welchen Beitrag können Kulturinstitutionen in Deutschland leisten?
Mit: Ernst Lüdemann (Deutsch-ukraische Gellschaft), Oksana Sawtchenko (nominiert für den internationalen Autor:innenwettbewerb 2017) und Anastasiia Kosodii (Theaterautorin, Projekteiterin). Moderation: Susanne Burkhardt (Deutschlandfunk Kultur). Es wird eine deutsch-ukrainische Simultan-Dolmetschung angeboten.
Eintritt Frei
Zwinger 3
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb Teil II
13:30 Uhr Pirsch von Ivana Sokola
14:30 Uhr Hascherl von DIEZEN kollektiv
16:00 Uhr OLM von Philipp Gärtner
Die Lesungen werden live www.theaterheidelberg.de gestreamt. Die Aufzeichungen sind anschließend auf www.theaterheidelberg.de abrufbar.
Sprechzimmer
Gastspiel HAU Berlin / Onlinetheater.live
von Kathi Kraft, Toni Minge, Luzia Oppermann + Caspar Weimann
Betreutes Spielen mit Onlinetheater.live
Eintritt frei
Alter Saal
Gastspiel Theater Bremen
REVUE. Über das Sterben der Arten
von Jan Eichberg, Felix Rothenhäusler und Theresa Schlesinger
Regie: Felix Rothenhäusler
Uraufführung
anschl. Publikumsgespräch
Marguerre-Saal
Gastspiel Düsseldorfer Schauspielhaus
In den Gärten oder Lysistrata Teil 2
von Sibylle Berg
Regie: Christina Tscharyiski
Nominiert für den Nachspielpreis >
anschl. Publikumsgespräch
Zwinger 1
Gastspiel Theater Erlangen
Aufruf an Alle! - 100 Jahre Sophie Scholl (14+)
Stückentwicklung
Regie: Pascal Wieandt
Nominiert für den Jugendstückpreis >
anschl. Publikumsgespräch
Maguerre-Saal
Gastspiel Schauspiel Leipzig / Deutsches Theater Berlin
von Sarah Kilter
Regie: Thirza Bruncken
Uraufführung
anschl. Publikumsgespräch
Zwinger 1
Gastspiel Consol Theater Gelsenkirchen
Löwenherzen (10+)
von Nino Haratischwili
Regie: Andrea Kramer
Mülheimer Kinderstückepreis 2021
anschl. Publikumsgespräch
Zwinger 3
Gastspiel Theaterhaus Jena
von Susanne Frieling und Ensemble
Regie: Susanne Frieling
Uraufführung
anschl. Publikumsgespräch
Marguerre-Saal
Gastspiel Maxim Gorki Theater Berlin
Filmvorführung des Theaterfilms von Jchj V. Dussel
Mit einem Center Piece von Raphaël Amahl Khouri
Deutsch mit englischen Untertiteln
Produktion: Paul Spittler
anschl. Publikumsgespräch
Anschließend für weitere 24h auf www.heidelbergerstueckemarkt.de abrufbar.
Maguerre-Saal
Gastspiel Schauspiel Köln
von Thomas Melle
Regie: Rafael Sanchez
Nominiert für den Nachspielpreis >
anschl. Publikumsgespräch
Alter Saal
Gastspiel Schauspielhaus Wien
von Anna Neata
Regie: Rieke Süßkow
Uraufführung
anschl. Publukumsgespräch
Zwinger 1
Gastspiel Schauspiel Hannover
Vater unser (15+)
nach dem Roman von Angela Lehner
Regie: Hannah Gehmacher
Nominiert für den Jugendstückepreis >
anschl. Publikumsgespräch
Zwinger 1
Gastspiel Schauspiel Hannover
Vater unser (15+)
nach dem Roman von Angela Lehner
Regie: Hannah Gehmacher
Nominiert für den Jugendstückepreis >
anschl. Publikumsgespräch
Zwinger 3
Gastspiel Staatstheater Nürnberg
Die Tonight, Live Forever oder Das Prinzip Nosferatu
von Sivan Ben Yishai
Regie: Michael Königstein
Nominiert für den Nachspielpreis >
Anschl. Publikumsgespräch
Alter Saal
Gastspiel Theater an der Parkaue Berlin
Krummer Hund (14 +)
nach dem Roman von Juliane Pickel
Regie: Alexander Riemenschneider
Nominiert für den Jugendstückepreis >
anschl. Publikumsgespräch
Alter Saal
Gastspiel Theater an der Parkaue Berlin
Krummer Hund (14+)
nach dem Roman von Juliane Pickel
Regie: Alexander Riemenschneider
Nominiert für den Jugendstückepreis >
anschl. Publikumsgespräch
Sprechzimmer
Gastspiel Theater Rampe Stuttgart
Theaterserie nach E. L. Karhu
Regie: Marie Bues und Niko Elefteriadis
anschl. Publikumsgespräch
Anschließend bis zum Ende des Festivals als Stream on Demand
Marguerre-Saal
Gastspiel Münchner Kammerspiele
Who Cares – Können Roboter pflegen?
Von Gesine Schmidt
In einer Fassung von Martín Valdés-Stauber
Regie: Christoph Frick
Uraufführung
anschl. Publikumsgespräch
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Maria Magda
von Svenja Viola Bungarten
Regie: Brit Bartkowiak
Alter Saal
Konzert der Band "Le Voyeur" aus Madrid
anschließend Party mit DJ
Eintritt frei
Zwinger 3
Eröffnung Gastland-Programm Spanien
Zwinger 3
Internationaler Autor:innenwettbewerb
12:30 Uhr Mein Italienfilm von Rocío Bello
13:30 Uhr Ich will die Menschen ausroden von der Erde von María Velasco
15:00 Uhr Thanatologie von Xavier Uriz
16:00 Uhr Die Feuerfesten (Universum 29) von Ruth Rubio
Die Lesungen werden live www.theaterheidelberg.de gestreamt. Die Aufzeichungen sind anschließend auf www.theaterheidelberg.de abrufbar.
Zwinger 1
Gastspiel Los Bárbaros, Madrid / Centro de Cultura Contemporánea Conde Duque
Die Erklärungen/ Las Explicaciones
von Rocío Bello, Elena H. Villalba, Javier Hernando und Miguel Rojo
Spanisch mit deutschen Übertiteln
(Übersetzung: Charlotte Roos)
anschl. Publikumsgespräch
Alter Saal
Gastspiel Prevee – Draft.inn
Fragen ans Universum / Preguntando Al Universo
von José Manuel Mora
Regie: Carlota Ferrer
Koproduktion mit Madrid Cultura y Turismo, SAU
Spanisch mit deutschen Übertiteln
(Übersetzung: Franziska Muche)
anschl. Publikumsgespräch
Foyer
Podiumsgespräch
Theater in Spanien
Martha Pazos (Regisseurin, "Othello"), José Manuel Mora (Gastlandkurator und Autor von "Fragen an das Universum") und María Velasco (Autorin des Internationalen Autor*innenwettbewerbs mit dem Stück "Ich will die Menschen ausroden von der Erde"). Moderation: Martín Valdés-Stauber. Es wird simultan deutsch-spanisch gedolmetscht.
Eintritt frei
Zwinger 3
Gastspiel Agrupacion Señor Serrano, Barcelona
von Àlex Serrano, Pau Palacios und Ferran Dordal
Produktion: Grec 2016 Festival de Barcelona; Agrupación Señor Serrano; Fabrique de Théâtre – Service des Arts de la Scène de la Province de Hainaut; Festival TNT – Terrassa Noves Tendènecies; Monty Kultuurfaktorij; Festival Konfrontacje Teatralne
Englisch mit deutschen Übertiteln
anschl. Publikumsgespräch
Marguerre-Saal
Gastspiel Voadora in Koproduktion mit Teatro de La Abadía, MIT Ribadavia und Teatro São João
Othello
nach William Shakespeare von Fernando Epelde
Regie: Marta Pazos
Spanisch mit deutschen Übertiteln
(Übersetzung: Miriam Denger)
anschl. Publikumsgespräch
Alter Saal
Preisverleihung
Eintritt frei
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